Laryngorhinootologie 2010; 89(11): 666-668
DOI: 10.1055/s-0030-1267198
Gutachten + Recht

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Aus der Gutachtenpraxis: Eine Lärmschwerhörigkeit kann sich nach Ende der Lärmexposition nicht weiter verschlimmern!

From the Expert's Office: Occupational Hearing Impairment never Progresses after Noise ExpositionT. Brusis
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Publication Date:
05 November 2010 (online)

Einleitung

Es gehört zu den wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen, dass eine Lärmschwerhörigkeit nicht weiter zunehmen kann, wenn die Lärmexposition durch Berentung oder Arbeitsplatzwechsel beendet ist (Brusis T. Trauma Berufskrankh. 2006: 8; 65–72). Dennoch findet sich in Gutachten gelegentlich die Auffassung, dass die Verschlimmerung einer Schwerhörigkeit Folge einer früheren Lärmexposition ist, obwohl der Betreffende seit Jahren keinem Lärm mehr ausgesetzt war. Der Gutachter muss dann – im Auftrag einer Berufsgenossenschaft oder eines Sozialgerichts – zu derartigen Ausführungen Stellung nehmen. In solchen Fällen empfiehlt es sich, aus der umfangreichen neuen und älteren Begutachtungsliteratur zu zitieren, um diese Tatsache zu untermauern. Im Folgenden sollen dazu Beispiele gegeben werden:

Schönberger, A., Mehrtens, G. und Valentin, H.: Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Erich Schmidt Verlag, 8. Aufl. (2010).

„Die Schwerhörigkeit muss sich während der Lärmarbeit entwickeln. Der Vorgeschichte ist zu entnehmen, ob der Betroffene bereits bei Aufnahme der lärmgefährdenden Tätigkeit schwerhörig war. Ist die Schwerhörigkeit nach Beendigung einer beruflichen Lärmexposition aufgetreten, so müssen andere Ursachen vorliegen”.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Versorgungsmedizinische Grundsätze für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht. BMAS Anlage zu §2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 i.d.F. der 1. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 01.03.2010 und der 2. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 14.07.2010, BGBl. 2010, 249; BGBl. 2010, 928; (in Kraft seit dem 01.01.2009).

„Lärmeinwirkungen (Beurteilungspegel ab 85 dB (A) über einen längeren Zeitraum) können Dauerschäden verursachen; sie sind in der Regel seitengleich, nehmen unter weiterer Exposition zu, führen aber nicht zur Taubheit. Ein schädigungsbedingtes Fortschreiten der Schwerhörigkeit nach Wegfall der Lärmeinwirkung ist nicht erwiesen”.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Amtliches Merkblatt zur Berufskrankheit Nr. 2301 „Lärmschwerhörigkeit” (Bek. d. BMAS v. 1.7.2008 – IVa4-45222-2301 publiziert im GMBl 2008/39, S. 798 ff.) (2008).

„Das Ausmaß der Lärmschwerhörigkeit nimmt mit der Dauer der Lärmexposition und mit der Lärmintensität zu … Nach beendeter Lärmexposition ist nicht mehr mit einem Fortschreiten der Lärmschwerhörigkeit zu rechnen”.

Boenninghaus, H.-G. und Th. Lenarz: Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, 13. Aufl. (2007). „Anfangs Erholung des Hörvermögens in Lärmpausen, nach Jahren im Lärm beiderseits symmetrische Verbreitung der Hochtonsenke im Tonaudiogramm, nach Aufgabe der Lärmarbeit keine Progredienz”.

Brusis, T.: Berufliche Lärmschwerhörigkeit – Diagnose, Differenzialdiagnose und Begutachtung (2006).

„Eine berufliche Lärmschwerhörigkeit kann sich – darüber besteht ebenfalls Einigkeit – nur während der beruflichen Lärmbelastung entwickeln und nicht danach. Die Zunahme einer vorbestehenden Lärmschwerhörigkeit nach Beendigung der beruflichen Lärmbelastung, z. B. durch Arbeitsplatzwechsel oder Berentung, kann daher nie auf die frühere Lärmexposition zurückgeführt werden. Sie muss immer andere Ursachen haben. Im versicherungsrechtlichen Sinne wird sie als Nachschaden gewertet und bei der MdE-Einschätzung bzw. Rentenberechnung nicht berücksichtigt”.

Feldmann, H.: Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohrenarztes, 6. Aufl. (2006).

„Die Schwerhörigkeit muss sich während der Lärmarbeit entwickelt haben. Sie darf nach Beendigung der Lärmexposition nur im Rahmen der altersentsprechenden Entwicklung fortgeschritten sein. Die zeitliche Kongruenz von Lärmexpositionen und Entwicklung der Hörstörung ist eines der wichtigsten Argumente bei der Diskussion des kausalen Zusammenhangs, und zwar sowohl im positiven als auch im negativen Sinn. Stimmen zeitliche Entwicklung der Schwerhörigkeit und Lärmexposition überein und schließen die audiometrischen Befunde eine Lärmschwerhörigkeit nicht aus, z. B. weil es sich um eine reine Schallleitungsschwerhörigkeit handelt, so ist in der Regel auch ein positiver kausaler Zusammenhang wahrscheinlich. Stimmen zeitliche Entwicklung und Lärmexposition nicht überein, etwa derart, dass schon vor Beginn der Lärmarbeit eine Schwerhörigkeit vorgelegen hatte oder dass die Schwerhörigkeit nach Beendigung der Lärmarbeit noch weiter fortgeschritten ist, so ist die Lärmexposition als wesentliche Bedingung zumindest für diesen Anteil der Hörstörung auszuschließen, und es ist zu diskutieren, was als Vorschaden und was als Nachschaden abzuklären ist”.

Niemeyer, W.: Kritisches zur Begutachtung der Lärmschwerhörigkeit „HNO-Praxis heute”, Springer Verlag, Band 20 (2000).

„Die Lärmschwerhörigkeit kann sich – im Gegensatz zu manchen anderen Berufskrankheiten – nach dem Ende der gefährdenden Einwirkung nicht mehr verschlimmern; auch dies ist gefestigt durch wissenschaftliche Erkenntnisse, scheint allerdings manchen Rechtsbevollmächtigten von Lärmrentenbewerbern nicht bekannt zu sein”.

Brusis, T.: Begutachtung der Lärmschwerhörigkeit nach dem neuen Königsteiner Merkblatt. HNO (1999); 47: 140–153.

„Die Annahme einer Lärmschwerhörigkeit setzt auch voraus, dass sich die Hörstörung während der Lärmexposition – nicht davor oder danach – entwickelt hat. Ein Grundpfeiler gutachterlicher Erfahrung ist, dass sich eine Lärmschwerhörigkeit nach Beendigung der beruflichen Lärmexposition nicht weiter verschlimmern kann. Verschlimmert sich eine Schwerhörigkeit dennoch nach Beendigung der beruflichen Lärmexposition, dann ist die Zunahme in keinem Fall auf die frühere Lärmexposition zurückzuführen”.

Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften, Königsteiner Merkblatt, 4. Aufl. (1996).

„Für die Annahme einer Lärmschwerhörigkeit spricht, wenn sich die Hörstörung während der Lärmexposition entwickelt hat …!”

Plath, P.: Lärmschäden des Gehörs und ihre Begutachtung. Schlütersche Verlagsanstalt (1991).

„Eine berufsbedingte Lärmschwerhörigkeit liegt nur dann vor, wenn sich die Schwerhörigkeit in der Zeit beruflicher Lärmbelastung entwickelt hat. Dies liegt in der Natur dieser Krankheit. Sie kann nicht in den Zeiten entstehen oder sich verschlimmern, in denen eine schädigende Lärmbelastung nicht vorhanden ist. Dass es eine Verschlimmerung der Lärmschwerhörigkeit nach Beendigung der beruflichen Lärmbelastung gibt, ist ausnahmslos nicht möglich. Nur eine Schwerhörigkeit, die die Symptome der Lärmschwerhörigkeit aufweist und während der Zeit beruflicher, schädlicher Lärmbelastung entstanden ist, kann gegebenenfalls als Berufskrankheit anerkannt werden”.

Niemeyer, W.: Erkrankungen von Ohren, Nase und Hals: Begutachtung. Hrsg. von H. H. Marx, Georg Thieme Verlag, 5. Aufl. (1987).

„Die Lärmschwerhörigkeit schreitet nach Beendigung der gehörschädigenden Lärmemission nicht fort, sondern bleibt konstant oder bildet sich in den 1. Monaten nach Ende der Lärmbelästigung sogar etwas zurück”.

Baldus, S.: Begutachtung von Lärmschäden. Sicht des Arbeitsmediziners: Lärmschäden des Ohres, Springer-Verlag, Hrsg. von M. Berg (1980).

„Der zeitliche Zusammenhang zwischen schädigendem Ereignis und Auftreten der Krankheitssymptome ist eine notwendige Voraussetzung für die Annahme eines ursächlichen Zusammenhangs (z. B. Auftreten einer Lärmschwerhörigkeit während der lärmgefährdenden Tätigkeit, kein Fortschreiten der Schwerhörigkeit nach deren Beendigung)”.

Partsch, C. J.: Verschlechterung oder Besserung bei Lärmschwerhörigkeit: Kolloquium „Berufliche Lärmschwerhörigkeit”. Schriftenreihe des Hauptverbands der gewerblichen Berufsgenossenschaften (1980).

„Zusammenfassend ist festzustellen, dass es unter Lärmeinwirkungen immer die Möglichkeit einer weiteren Hörverschlechterung gibt, die nach Herausnahme aus dem Lärm keine Progredienz zeigt und – falls sich das Hören doch verschlechtert – der Grund nicht in der früheren Lärmbelastung zu suchen ist. Eine Verbesserung des Hörvermögens nach Herausnahme aus dem Lärm findet nicht statt”.

Prof. Dr. T. Brusis

Institut für Begutachtung

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