Ultraschall Med 2005; 26(4): 356-362
DOI: 10.1055/s-2005-915525
SGUM/SSUM-Bulletin

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Leserecke - Hüftsonographie

Further Information

Publication History

Publication Date:
26 August 2005 (online)

 
Table of Contents #

Stellungnahme von Dr. Meuwly vom 24.3.2005

Chers amis,

La pratique de l'échographie de hanche comme méthode de screening est extrèmement controversée. Soutenue de manière intensive par une école essentiellement germanique, elle n'a jamais fait formellement ses preuves à travers le monde. Au contraire, les recommandations les plus récentes, émanant des groupes les plus au point quant à “l’evidence based medicine" excluent cette pratique des examens de screening (Canadian Task Force on Preventive Health Care, Le dépistage et le traitement de la dysplasie congénitale de la hanche chez les nouveau-nés, JAMC 2001; 164: 1669-1677, Holen KJ, Tegnander A, Bredland T et al. Universal or selective screening of the neonatal hip using ultrasound? A prospective, randomised trial of 15,529 newborn infants. J Bone Joint Surg Br. 2002 Aug; 84: 886-890).

Cette prestation de dépistage avait été acceptée initialement au sein des prestations de base couvertes par la LAMAL, à condition que la preuve de son utilité soit établie dans les 5 ans. La SSUM avait à l'époque (avril 1997), comme d'autres sociétés médicales, soutenu le projet et participé financièrement à son élaboration. Aucun élément concret n'est depuis venu étayé les affirmations des partisants de l'échographie de dépistage de la hanche du nouveau-né, et il ne faut pas s'étonner que cette prestation soit retirée de la liste.

Le rôle de la SSUM est de soutenir la pratique réfléchie de l'échographie médicale, donc de promouvoir un usage des ultrasons là où ils sont formellement indiqués. La preuve de l'utilité du screening de la hanche du nouveau-né n'a pas été faite, si ce n'est par l'intime conviction de ses partenaires les plus ardents. Accorder plus longtemps son crédit à cette activité de screening dont l'efficacité est discutable reviendrait à cautionner des actes médicaux non justifiés. Il faut savoir reconnaître que cette activité n'a pas sa place parmi les prestations de base.

Si un groupe de recherche démontre dans le futur que l'échographie de hanche du nouveau-né présente un réel bénéfice, nous aurons alors des arguments pour demander la réintroduction de la prestation. Toutefois, la situation actuelle n'est que le juste retour des choses: Les caisses-maladie ont durant de nombreuses années financé une activité expérimentale, menée en dehors de tout protocole de recherche. C'est une chance si elles n'exigent pas un remboursement de leurs prestations!

Nous devons donc prendre acte du retrait de cette prestation et nous concentrer sur les indications reconnues qui font la force de l'échographie en pratique clinique. Ceci ne va d'ailleurs pas nous empêcher d'explorer les hanches par échographie, lorsqu'une situation clinique l'exige!

Meilleures salutations

PD Dr. J.-Y. Meuwly, Dept. Radiologie, CHUV, 1011 Lausanne

021-314 44 44, Fax. 021/314 44 88

Email: Jean-Yves.Meuwly@chuv.hospvd.ch

#

Entgegnung von Dr. Schilt auf die Mail von Dr. Meuwly, vom 21.3.2005

Sehr geehrter Herr Präsident,

Lieber Urs,

Die Stellungnahme im Mail vom 21.3.2005 von PD Dr. J.-Y. Meuwly, Lausanne, zum Schreiben vom 9.3.20005 von Dr. Max Giger, Leiter AWF der FMH, an Dich als SGUM-Präsidenten, ist uns per Mail am 25.3.2005 von PD Dr. K. Biedermann, Präsident der FMH-Kommission "Hüftsonographie nach Graf", weitergeleitet worden. Hiezu ist eine Entgegnung unumgänglich:

A. Der Brief von Dr. M. Giger hat offensichtlich zu einem Missverständnis Anlass gegeben. Es geht nicht um die Wiedereinführung des Hüftsonographie-Screenings in den Leistungskatalog der obligatorischen Krankenversicherung. Als Vorsorgemassnahme war sie in KLV Art. 12, Bst. r enthalten, jedoch befristet bis zum 30.6.2004 und ist seither aufgehoben. Seit 1.7.2004 ist jedoch die Hüftsonographie nach der Methode von Graf als diagnostische Massnahme eine Pflichtleistung der Krankenkassen (KLV Anhang 1, Kapitel 4). Dieser Beschluss des EDI ist unbefristet. Nach wie vor wird behördlicherseits vorgeschrieben, dass diese Untersuchung durch speziell in dieser Methode ausgebildete Ärzte und Ärztinnen durchzuführen sei. Das FMH-Fähigkeitsprogramm "Hüftsonographie nach Graf bei Neugeborenen und Säuglingen" behält somit weiterhin seine Notwendigkeit!

B. Dr. Meuwly zitiert als Beleg der Nutzlosigkeit eines Hüftsonographie-Screenings eine Arbeit aus Norwegen:

Holen KJ, Tegnander A, et al.: 'Universal or selective screening of the neonatal hip using ultrasound? A prospective, randomised trial of 15,529 newborn infants'. J Bone Joint Surg [Br] 2002; 84-B: 886-890.

B 1. Diese Publikation ist uns seit dem Erscheinen im Sommer 2002 bekannt. Es lohnt sich, sie näher zu betrachten:

Studienanlage: Von 1988-1992 wurden (fast) alle Neugeborenen (15,529) im Universitäts-Spital Trondheim durch Randomisierung in 2 Gruppen eingeteilt (Ausschluss von 410 Kindern = 2,6%, deren Eltern im Ausland wohnten oder ihre Zustimmung verweigerten).

Gruppe 1: 7840 Neugeborene wurden klinisch untersucht, wovon 7489 (= 95,5%) auch sonographisch (drop out 4,5%).

Gruppe 2: 7689 Neugeborene, die nur klinisch untersucht wurden. Zusätzlich Hüftsonographie bei 872 Neugeborenen (= 11,3%) mit Risikofaktoren oder klinischer Auffälligkeit.

Resultate: Als Spätfälle wurden alle Kinder erfasst, deren Pathologie (Hüftluxation, Hüftdysplasie) nach dem 1. Lebensmonat entdeckt und behandelt wurden:

Gruppe 1: 0,96% der Neugeborenen wurden behandelt. 1 Spätfall (0,13 auf 1000 Neugeborene) wurde im Alter von 3 Monaten entdeckt (mit einseitiger Hüftdysplasie).

Gruppe 2: 0,86% der Neugeborenen wurden behandelt. 5 Spätfälle (0,65 auf 1000 Neugeborene) wurden im Alter von 3-6 Monaten entdeckt (1 mit beidseitiger Hüftluxation, 2 mit einseitiger Hüftluxation, 2 mit einseitiger Hüftdysplasie).

Schlussfolgerungen: Da der Unterschied der Rate der spät entdeckten Fälle (0,13 zu 0,65‰) statistisch nicht signifikant ist (p = 0,22 im Fisher's exact test), kommen die Autoren zum Schluss, dass ein generelles Hüftsonographie-Screening nicht notwendig sei. Sie geben jedoch zu, dass ein generelles Screening Spätfälle ausmerzen könnte, zumal der einzige Fall in der Gruppe 1 einen Pes adductus aufwies und entgegen dem Protokoll nicht sonographisch nachkontrolliert wurde.

B 2. Kommentar zu dieser Studie: Die fehlende statistische Signifikanz in der Häufigkeit der Spätfälle in beiden Gruppen sagt lediglich aus, dass ein Unterschied nicht nachweisbar war. Das Gegenteil ist aber genauso richtig, nämlich dass nicht nachweisbar ist, dass kein Unterschied besteht.

Somit ist die Behauptung von Dr. Meuly keineswegs korrekt, dass der Beweis der Nutzlosigkeit eines Screenings erbracht sei. Dieser logische Fehler findet sich immer wieder in den Schlussfolgerungen von Publikationen der 'Evidence-based Medicine' (d. h. Nichterkennen vom sog. Fehler 2. Art)!

Trotz der grossen Anzahl Kinder, die in der Studie eingeschlossen waren, ist ein signifikanter Unterschied nicht zu erwarten. Bei dieser derart geringen Häufigkeitsrate von 0,65‰ ist eine noch viel grössere Anzahl Fälle zu untersuchen, damit eine statistische Signifikanz erreicht wird. Es gibt Regeln, mit welcher die notwendigen Fallzahlen vor Studienbeginn abgeschätzt werden können. Es erstaunt immer wieder, dass diese grundlegenden Regeln auch EBM-geschulten Personen unbekannt sind!

Dass eine Signifikanz aus dieser Studie nicht zu erwarten ist, geht allein schon aus den Berechnungen der Autoren selbst hervor, nämlich dass das 95%-Konfidenzintervall für das relative Risikos einer spät entdeckten Hüftdysplasie in der Gruppe 1 gross ist, nämlich zwischen 0,03 und 1,45. Auch diese Angabe müsste bei einer Studienbeurteilung mitbewertet und interpretiert werden!

Die sonographische Untersuchung der Hüftgelenke wurde in dieser Studie nach der Methode von Terjesen gemacht. Diese beurteilt lediglich die Position des Hüftkopfes in Bezug auf das Pfannendach (Lateralisation/Dezentrierung). Die Form des knöchernen Pfannendaches - der eigentliche Schlüssel für eine prognostische Aussage (normal/zur Dysplasie oder Luxation gefährdet) - wird nicht quantitativ erfasst. Spätfälle, d. h. sich nachträglich entwickelnde Dysplasien und Luxationen, können mit dieser Methode nur unzuverlässig vermieden werden.

Die korrekte Aussage auf Grund der Studie müsste somit lauten:

Es konnten mit dem generellen Hüftsonographie-Screening nach der Methode von Terjesen nicht alle Spätfälle eliminiert werden. Der Unterschied zu einem selektiven, sonographischen Screening ist zu gering, um eine statistisch gesicherte Aussage zu machen.

In der Schweiz ist die Hüftsonographie (ausdrücklich) nach der Methode von Graf eine Pflichtleistung der Krankenkassen. Durch die quantitative Beurteilung des Pfannendaches berücksichtigt sie genau das pathophysiologische Krankheitsgeschehen, und ist in prognostischer Hinsicht sehr zuverlässig. Es scheint, dass Dr. Meuwly bei seiner Beurteilung vorwiegend die Methodologie dieser Studie (Randomisierung) bewertet und auf den Inhalt (Qualität der primären Daten) nicht achtet. Dies mag ein zusätzlicher Hinweis sein, dass zur wirklichen Kenntnis der Graf'schen Methode eine spezielle Ausbildung notwenig ist, wie es die behördliche Verordnung seit 1.1.1997 vorschreibt!

C. Dr. Meuwly zitiert eine Publikation der Canadian Task Force on Preventive Health Care.

(Sie war etwas schwierig aufzufinden, da in Medline diese Zeitschrift in englisch mit CMAJ abgekürzt wird, während Dr. Meuwly die französische Schreibweise JAMC benutzt. In Medline gilt mit dieser Abkürzung eine Zeitschrift in Pakistan!).

Patel H.: 'Preventive heath care, 2001 update: Screening and management of developmental dysplasia of the hip in newborns'. CMAJ 2001; 164: 1669-1677

C 1. Diese Publikation basiert ausschliesslich auf einer Durchsicht von Publikationen in englischer Sprache. Von Prof. Graf wird einzig eine Arbeit von 1984 zitiert, als hätte er seither nie mehr über seine Methode geschrieben! Die berücksichtigten Publikationen werden ausschliesslich nach EBM-Kriterien bewertet (Grad I-III der Evidenz) und daraus Empfehlungen formuliert (Grad A- E). In Bezug auf die Hüftsonographie basiert diese Zusammenstellung v. a. auf einer Studie ebenfalls aus Norwegen:

Rosendahl K, Markestad T, et al. 'Ultrasound Screening for Developmental Dyspalsia of the Hip in the Neonate: The Effect on Treatment Rate and Prevalence of Late Cases'. Pediatrics 1994; 94: 47-52.

Diese Studie ist mir ebenfalls bestens bekannt. Es lohnt sich auch, sie näher anzusehen:

Studienanlage: Von 1988-1990 wurde alle Neugeborenen (11925) im Universitäts-Spital Bergen nach einem Zufallsprinzip (stationärer Aufenthalt in einer der drei Pflegeabteilungen) in 3 Gruppen aufgeteilt:

Gruppe 1: generelles Screening: 3613 Neugeborene, wovon 456 (= 12,6%) mit Risiken (Familienanamnese, Geburtslage, incl. auffällige Klinik). Alle wurden sonographisch untersucht (Methode nach Graf für die Morphologie, Methode nach Terjesen für die Instabilität).

Gruppe 2: selektives Screening: 4388 Neugeborene, wovon 518 (= 11,8%) mit Risiken. Nur diese Kindern mit Risiken (inkl. auffälliger Klinik) wurden sonographisch untersucht.

Gruppe 3: kein Ultraschall, ausschliesslich klinische Untersuchung: 3924 Neugeborene, ohne Unterteilung in anamnestische Risiken. Hievon zeigten klinisch 71 Kinder eine instabile Hüfte. Auch diese wurden nicht sonographisch weiter abgeklärt.

Resultate: (Siehe Tab. [1])

Zoom Image

Schlussfolgerungen: Beim Screening werden mehr Fälle behandelt oder kontrolliert als nur mit Teilscreening oder ohne sonogr. Screening. Die Unterschiede (fett gedruckte Zahlen) sind signifikant.

Spätfälle (Subluxationen/Luxationen) treten trotz fehlender Sonographie oder beim selektiven Screening nicht vermehrt auf, d. h. kein signifikanter Unterschied (fett gedruckte Zahlen). Somit lohnt sich ein generelles Screening nicht!

C 2. Kommentar zur Studie Rosendahl: Anzahl Kontrollen: Ausschliesslich sonographisch untersuchte Neugeborene werden später sonographisch kontrolliert. Dies geht aus der Methode von Graf hervor. Sie vermag jene Fälle zu unterscheiden, deren Verlauf ungewiss ist, d. h., sie können ein normales spontanes Weiterwachstum zeigen, sich jedoch auch verschlechtern bis zur Luxation. Deswegen sind Kontrollen unabdingbar. Dass nun in der Gruppe 1 (generelles Screening aller Neugeborenen) am meisten Kontrollen anfallen, ist somit zwangsläufig eine Folge der Studienanlage.

Das Resultat überrascht in keiner Weise!

Anzahl Behandlungen: Die Indikation wurde entweder auf Grund des klinischen oder des sonographischen Befundes gestellt. Dass in jenen Gruppen (2 und 3), wo viel weniger oder gar keine Neugeborenen sonographisch untersucht worden sind, auch weniger Kinder behandelt wurden, ist somit auch eine Folge der Studienanlage und überrascht ebenfalls nicht. Interessant ist der Vergleich innerhalb der Gruppe 1: Die Anzahl der behandelten Kinder in der Untergruppe mit Risiken (inkl. klinischer Auffälligkeit) und in jener ohne Risiken (und ohne Symptome) ist genau gleich gross. Dies bestätigt die längst bekannte Tatsache, dass etwa die Hälfte der behandlungsbedürftigen Kinder in der Gruppe ohne Risiken und ohne klinischer Auffälligkeit zu finden ist. Deswegen ist ja das generelle Screening sinnvoll!

Anzahl Spätfälle: Alle Kinder, die älter als ein Monat waren, als sie zur Behandlung in die Klinik eingewiesen wurden, werden zu den Spätfällen gerechnet. Es wird in der Studie angenommen, dass anderweitig keine Kinder mit Hüftdysplasien oder Luxationen therapiert werden. Es wird nicht angegeben, wie das ursprüngliche Sonogramm ausgesehen hat, sofern eine Ultraschalluntersuchung bei Geburt gemacht worden war. Interessieren würde v. a. jener einzige Fall (von 3'613) aus der Gruppe 1, wo nachträglich eine Subluxation diagnostiziert wurde. Wie hatte das Bild bei Geburt ausgesehen? War das Kind ev. durch die Maschen geschlüpft und bei Geburt nicht sonographiert worden?

Die Anzahl der Spätfälle ist erstaunlich klein, am höchsten mit 2,6 Fälle auf 1000 Neugeborene in der Gruppe 3 (nur klinische Untersuchung). Die Unterschiede zu den anderen Gruppen gelten als nicht signifikant, auch wenn in Gruppe 1 nur halb so viele Fälle zu verzeichnen waren, und 5-mal weniger mit verspäteter Diagnose einer Dezentrierung des Hüftkopfes. Die gleiche Kritik wie bei der Publikation von Holen et al. (s. unter B.2.) muss auch hier angebracht werden. Die fehlende Signifikanz bedeutet keineswegs, dass sicher kein Unterschied besteht. Bei einer derart geringen Häufigkeit von 0,13% (dezentrierte Spätfälle) sind mehr als 4000 Neugeborene zu untersuchen, damit eine Signifikanz überhaupt erwartet werden kann.

C 3. Kommentar zur Studie der Canadian Task Force (Patel H.): In Bezug auf die Hüftsonographie bezieht sie sich hauptsächlich auf die obige Studie von Rosendahl et al. Daraus wird die Empfehlung formuliert, dass ein generelles und auch ein selektives sonographisches Screening in den routinemässigen Gesundheitskontrollen der Kinder mit gutem Evidenzgrad auszuschliessen sei. Immerhin wird in der Studie selbst festgehalten, dass etwa 60% der Kinder mit Hüftdysplasie keine erkennbaren Risiken aufweisen. Wo ist da die Logik zum Ausschliessen eines songr. Screenings aus der Säuglingsbetreuung? In der Schweiz sind Fälle mit bedauernswertem Verlauf (mehrfache stationäre, zunächst konservative Behandlung und später Operationen) infolge fehlender sonogr. Untersuchung bei Geburt bestens bekannt!

Wenn man bedenkt, wie diese Aussagen zustande gekommen sind, so erstaunen auch die weiteren Empfehlungen in dieser Publikation nicht, nämlich:

  • mit derselben Evidenz sei auch eine routinemassige Röntgenuntersuchung auszuschliessen!

  • mit guter Evidenz sei ein Zuwarten bei klinisch festgestellter Hüftdysplasie zu empfehlen, jedoch gebe es nur eine ungenügende Evidenz über die Zeitspanne, wie lange man zuwarten soll!

Man wird beim Lesen dieser Empfehlungen den Eindruck nicht los, als beruhen sie auf den Erkenntnissen von vor 30-50 Jahren! Soll daraus jetzt eine gültige Aussage für die Schweiz abgeleitet werden.

D. Nutzen der Hüftsonographie nach Graf: Der Spontanverlauf war schon Hippokrates bekannt: lebenslange Behinderung, Beschwerden der frühzeitigen Arthrose, Ausgrenzung schon in der Kindheit.

Aus dem 19. Jahrh. ist die Geschichte bekannt, dass ein Bauer für seine Tochter mit doppelseitiger Hüftluxation einem Heiratsvermittler viel Geld bezahlt hatte, damit sie in die nahe gelegene Grosstadt kommt. Mit ihrer Behinderung war sie auf einem Bauernhof nicht begehrt!

Behandlungen hat auch Hippokrates mit Geräten zur gewaltsamen Einrenkung versucht. Diese Art der Therapie, welche regelrechten Folterungen während Monaten gleichkam, wurde bis in die Neuzeit immer wieder angewandt, mit schlechtem Erfolg. Auch heute noch ist die humane Overhead-Extension ein Schrecken der Eltern.

Im 19. Jahrh. kamen die ersten Operationsmethoden, die immer wieder abgewandelt und neue ausprobiert wurden, offensichtlich nach der Suche nach Verbesserungen der unbefriedigenden Resultate.

Dass der Erfolg wesentlich vom Alter bei Behandlungsbeginn abhängt, wurde sehr früh erkannt. Erstmals im 16. Jahrh. kam die Empfehlung zur Behandlung schon der Neugeborenen, eine Forderung die in groben Zeitintervallen in vielen europäischen Ländern immer wieder auftauchte. Jedoch erst mit der Hüftsonographie nach der Methode von Graf (Erstpublikation 1980) ist die zuverlässige Diagnose frühzeitig (d. h. ab Geburt) Tatsache geworden.

Es lag nun auf der Hand, diese Möglichkeit der frühzeitigen Diagnose und folglich auch des frühzeitigen Behandlungsbeginns voll auszunutzen. Die dabei erzielbaren Resultate sind erstaunlich:

Bei einem Behandlungsbeginn in der 1. Lebenswoche wird mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit bis zum Alter von 3-4 Monaten ein funktionell und anatomisch normales Hüftgelenk erreicht.

Die Behandlung kann (mit sehr seltenen Ausnahmen) ambulant durchgeführt werden.

Beide Aussagen gelten unabhängig vom Schweregrad des Ausgangsbefundes.

Diese sehr erfreulichen Therapieresultate stellen sich überall ein, wenn folgende Voraussetzungen strikt eingehalten werden:

1. Die Diagnose muss frühzeitig, d. h. in der 1. Lebenswoche, erfolgen.

2. Die Diagnose ist mit der bildgebenden Methode nach Graf zu stellen.

Klinisch entgehen bei Geburt etwa 30% der luxierten Hüftgelenke und ca. 50% der Pfannendachpathologien, die später zu einer Luxation oder Hüftdysplasie führen können.

Andere sonographische Methoden bewerten vorwiegend die Stabilität und die Zentrierung des Hüftkopfes. Die anatomische Form des Pfannendaches wird nicht quantitativ erfasst, sodass die Prognose über die weitere Hüftentwicklung unzuverlässig ist.

3. Zur sicheren Handhabung der sonographischen Methode von Graf ist eine spezielle Ausbildung notwendig, da sie ein kohärentes System von der Bildaufnahme, Schnittebene, Bildbeurteilung, Diagnose bis zur therapeutischen Konsequenz darstellt, wobei alle relevanten Punkte standardisiert sind.

4. Die Therapie ist (sofern indiziert) ohne Verzug einzuleiten und richtet sich nach dem pathophysiologischen Stadium, in welchem sich das Hüftgelenk befindet. Dieses ist aus der Sonographie nach Graf erkennbar.

Die Prinzipien einer adäquaten Behandlung sind einfach zu formulieren:

  • Reposition dezentrierter Hüften

  • Retention instabiler Hüften

  • Maturation des nicht normalem, knöchernen Pfannendach

Wenn eine einzige dieser Voraussetzungen nicht erfüllt wird, so stellen sich unweigerlich die früheren Probleme wieder ein (stationäre Behandlungen, operative Repositionen, Reluxationen) mit den bekannten, unbefriedigenden Resultaten (definitive Deformationen des Pfannendaches oder des Hüftkopfes, Frühcoxarthrose etc.).

Da etwa die Hälfte der Neugeborenen, die einer Behandlung bedürfen, nicht zur Risikogruppe gehören und klinisch (zunächst) unauffällig sind, stellen sich auch dann langwierige Behandlungen und unerfreuliche Resultate ein, wenn die sonographische Untersuchung auf Risikofälle beschränkt oder verspätet (nach der 1. oder 2. Lebenswoche) durchgeführt wird.

Es ist mir unverständlich, warum es der 'Evidence-based Medicine' bisher nicht möglich war, diese eklatanten Unterschiede in ihr Wissensgebäude einzubauen. Exemplarisch dafür ist die 'systematic review', welche im Jahr 2002 im Auftrag des BSV vom Centre of Reviews and Dissemination der Universität York (GB) erstellt wurde. Diese Literaturrecherche bewertet (ohne Beizug von Experten der Orthopädie und der Sonographie!) die Publikationen ausschliesslich nach der angewandten Methodologie und anerkennt nur randomisierte, kontrollierte prospektive klinische Studien als beweiskräftig. Sie kam daher zum Schluss, dass solche Studien fehlen und daher der Nutzen eines Screenings nicht erbracht sei. Der Inhalt der geprüften Studien (Qualität der primären Daten) sowie grundlegende Arbeiten zum Verständnis des Krankheitsgeschehens wurden überhaupt nicht beachtet. Dieselben Mängel finden sich auch in einer zusätzlichen Studie des Horten-Zentrums der Universität Zürich, ebenfalls im Auftrag des BSV. Ich hatte damals das Cochrane-Zentrum der Universität Freiburg im Br. (zuständig für das deutschsprachige Europa und die Oststaaten) sowie das Institut für klinische Epidemiologie der Universität Basel und zahlreiche andere Institute, die sich mit EBM befassen, angeschrieben. Entweder habe ich gar keine Antwort erhalten oder die lapidare Absage, dass keine Kapazitäten für das Studium dieser Frage zur Verfügung stünden.

Auf Grund der völlig wirklichkeitsfremden Schlussfolgerungen der 'systematic review' des CRD in York hatten die Behörden eine entsprechende Studie imperativ gefordert, deren Planung von Dr. Beat Dubs, Zürich, an die Hand genommen wurde und ihm viel Zeit und Geld gekostet hatte (Ausarbeiten der Studienpapiere, Erstellen der Datenbank mit Online-Eingabe der Daten etc.). Schliesslich hatte die Nationale Ethikkommission (NEK) offiziell festgestellt, dass solche randomisierte Studien ethisch nicht zulässig sind (zumal eine Gruppe zwangsläufig erst verspätet zur Behandlung kommt) und sachlich auch gar nicht notwendig ist (augenfälliger Unterschied von früher zu jetzt).

Wenn die EBM keine den klinischen Gegebenheiten adäquate Prüfungsmethode kennt oder sich völlig vom Problem verabschiedet, so ist es bemühend, wenn nicht unerträglich, wenn immer wieder erneut und in Unkenntnis der Materie diese längst entkräfteten Behauptungen kolportiert werden!

E. Der Nutzen eines sonographischen Screenings kann auch in finanzieller Hinsicht untersucht werden. Mehrere ausländische Publikationen gehen dieser Frage nach. Die Resultate sind jedoch kaum auf die Schweiz übertragbar, da wir ein anderes Kostenniveau haben. Aus der 20-jährigen Erfahrung meiner Praxis geht Folgendes hervor, berechnet mit hiesigen Tarifen:

  • die Notwendigkeit der Behandlung einer luxierten Hüfte (Typ III nach Graf) ist weltweit unbestritten.

  • ein Neugeborenes, bei dem ich in der 1. Lebenswoche eine Hüfte vom Typ IIIa entdeckt habe, konnte immer ambulant behandelt werden (Ausnahme: teratologische Luxation oder Typ IV nach Graf, beide extrem selten!).

  • eine Luxation vom Typ IIIa, die später entdeckt wird, kann nicht mehr ambulant behandelt werden. Die Chance zur ambulanten Behandlung sinkt erheblich mit jeder Lebenswoche.

  • die Differenz der Kosten zwischen ambulanter und stationärer Behandlung sind erheblich (IV-Tarif).

  • mit dieser Differenz (Einsparung) können mindestens so viele Neugeborene sonographisch untersucht werden, als zum Auffinden eines Falles mit Typ IIIa notwendig ist.

Diese Berechnung betrifft lediglich einen wichtigen Teilaspekt der Kosten. Bei Betrachtung sämtlicher Aspekte und unter Berücksichtigung der tatsächlichen Kosten zeigt sich, dass ein generelles Screening nicht nur den optimalen Nutzen für die Neugeborenen bringt, sondern auch kostengünstig ist.

Umso weniger ist mir verständlich, wenn immer wieder behauptet wird, der Beweis der Nutzlosigkeit eines sonographischen Screenings sei erbracht!

F. Dr. Meuwly bemängelt, dass die Chance einer Beweisführung für den Nutzen eines Screenings vertan worden sei, obschon auch die SGUM hiefür einen finanziellen Beitrag geleistet habe. Dieser Beitrag wurde vollumfänglich für eine Studie verwendet, welche dem Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Zürich (Direktor Prof. Gutzwiller) in Auftrag gegeben wurde. Die daraus entstandene Diplomarbeit zum Master of Public Health wurde von den Behörden als nicht beweisend abgetan!

Das BSV hatte jegliche finanzielle Unterstützung der behördlich geforderten Studie verweigert. Für die Evaluation des Schwangerschaftsultraschalls hatte sich das BSV mit namhaften Beträgen beteiligt. Für Studien zur Prüfung von alternativmedizinischen Methoden ("Programm Evaluation Komplementärmedizin" PEK) sind Millionenbeträge u. a. auch vom Bund ausgegeben worden. Die cong. Hüftdysplasie und Luxation gilt als die häufigste angeborene Krankheit des Bewegungsapparates. Zur Evaluation deren Früherfassung sind keine öffentlichen Ressourcen vorhanden!

Von Seiten der Romandie wird immer wieder behauptet, dass in Bezug auf die cong. Hüftdysplasie und Hüftluxation die Kinder in ihrem Landesteil, wo ein sonographisches Screening abgelehnt wird, nicht schlechter behandelt werden als in deutschschweizer Gegenden, wo ein generelles Screening durchgeführt wird! Die Erfolge bei frühzeitiger Diagnose und ebenso frühzeitigem Behandlungsbeginn sind bekannt und publiziert. Es sind mir aber keine entsprechenden Publikationen bekannt (auch nicht aus der Romandie), welche zeigen, dass auch ohne frühzeitige Sonographie der Neugeborenen dieselben optimalen Ergebnisse und ebenso kostengünstig (ambulant) erreicht werden!

Wenn zur Beurteilung der Qualität der ärztlichen Versorgung der Neugeborenen dieselben Kriterien angewandt werden wie in den von Dr. Meuwly zitierten Publikationen (Holen und Rosendahl), nämlich dass als Spätfall jene Kinder gelten, die älter als einen Monat sind, wenn sie zur Behandlung kommen, wie viele Fälle (pro Tausend Neugeborene) gibt es dann in der Romandie?

Wenn ich für die Erfahrungen in meiner eigenen Praxis ebenfalls die Kriterien von Holen und Rosendahl anwenden darf, indem ich als Spätfall jene Kinder zähle, von denen mir trotz normaler Sonographie bei Geburt (Typ I nach Graf) eine nachträgliche, verspätete Behandlung bekannt geworden ist, so kann ich auf insgesamt 6000-7000 Fälle keinen einzigen nennen!

G. Die jetzige gesetzliche Regelung stellt es jedem Arzt und jeder Ärztin frei, ob er/sie zur Betreuung von Neugeborenen und Säuglingen die Hüftsonographie nach Graf als notwendig erachtet (siehe auch Pressemitteilung des BAG vom 16.6.2004). Mündlich hat mir der Direktor des BAG, Prof. Zeltner, persönlich zugesichert, dass gegenüber der Krankenkasse (oder dem Vertrauensarzt) keine Begründung abgegeben werden muss.

Diese unbefristete Regelung der Behörden, welche jedem seine Freiheit und seine Überzeugung lässt, soll nicht angetastet werden!

Zum Schluss möchte ich die SGUM anfragen, ob sie gewillt ist, für eine Empfehlung Hand zu bieten, wie diese heutigen Möglichkeiten optimal genutzt werden können.

Ich hoffe, mit meinen Ausführungen zur Klärung der Situation beitragen zu können

und grüsse Dich freundlich

PS: Diese meine Ansichten ergeben sich nicht nur aus dem regelmässigen Studium der Literatur, sondern auch auf Grund meiner eigenen über 20-jährigen Erfahrungen in Diagnose und Therapie der cong. Hüftdysplasie und Hüftluxation. Sie decken sich genau mit den Erfahrungen im In- und Ausland, soweit dasselbe Prozedere angewandt wird (frühe Diagnose, frühe Behandlung). Von vielen Zentren werden diese Erfahrungen gar nicht publiziert (da nicht mehr neu), und man erfährt sie nur aus Vorträgen an Kongressen oder im persönlichen Gespräch. Auf jeden Fall kann ich mich für obige Aussagen verbürgen.

Zoom Image
 
Zoom Image
Zoom Image