Gesundheitswesen 2000; 62(1): 9-14
DOI: 10.1055/s-2000-10306
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die Rolle der Klinik im Verlauf schizophrener Erkrankungen

G. Längle, M. Mayenberger
  • Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Tübingen
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Publication Date:
31 December 2000 (online)

Zusammenfassung

Schizophrene Patienten haben die längsten Verweildauern in den psychiatrischen Kliniken, ihre psychosoziale Versorgung bedingt die höchsten Kosten unter allen psychischen Erkrankungen. Ausgehend von den Besonderheiten des Krankheitsbildes wird die Bedeutung der stationären Behandlung im Verlauf der Erkrankung untersucht. Die Rolle der Klinik wird in ihrer Entwicklung zum Verbundpartner im gemeindepsychiatrischen Versorgungssystem der 90er-Jahre dargestellt.

Zentrale Themen der Klinikbehandlung wie die Erstaufnahme, die Behandlung wider Willen, die Entlassplanung sowie die Gestaltung der Wiederaufnahme werden auf dem Hintergrund eigener Untersuchungen näher beleuchtet: Schizophrene stellen den größten Teil der Zwangsuntergebrachten. Nur 50 % von ihnen würden bei einer erneuten Krankheitsphase freiwillig die Klinik aufsuchen. Insgesamt unterscheiden sich aber Schizophrene in ihrer Bewertung der Klinikbehandlung bei Entlassung nicht von anderen Patientengruppen. Auch nach stationärer Erstbehandlung sind häufig noch positive Entwicklungen bei der beruflichen Qualifikation sowie der Partnersuche zu beobachten.

Voraussetzung für eine weitere Verbesserung der Versorgung dieser Patientengruppe ist, die institutionszentrierte - und damit auch die klinikzentrierte - Sichtweise zu überwinden und patientenzentrierte Versorgungsmodelle mit individueller Hilfeplanung zu etablieren.

The Role of the Hospital in the Course of Schizophrenic Illness

Schizophrenics have the longest hospital stays and incur the greatest costs with respect to psychosocial care compared to other psychiatric patients. The present study focuses on the relevance of inpatient treatment during the course of schizophrenia with regard to specific symptom characteristics. In addition, the role of the hospital in partnership with local community health care facilities for the care of schizophrenic patients is described.

Central aspects of hospitalisation, such as the circumstances of first admission, involuntary treatment, discharge planning, and provision for readmission are analysed and linked to our own data. Schizophrenic patients comprised the largest group of involuntarily treated patiens and only 50 % said they would return voluntarily to hospital if their symptoms recurred. On discharge from hospital, schizophrenic patients did not differ from other psychiatric patients with regard to their attitudes to hospitalisation. Improvement in both work and interpersonal skills was evident after first inpatient teatment.

To provide better care for this group of patients, patient-oriented health provision services with individual attention, treatment and care planning are needed, in contrast to the more traditional hospital-oriented approaches that have been tending to give priority to institutional needs.

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Dr. med. Gerhard Längle

Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Osianderstraße 24

D-72076 Tübingen