Z Sex Forsch 2010; 23(4): 299-327
DOI: 10.1055/s-0030-1262717
ORIGINALARBEIT
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Pädosexuelle Männer

Eine psychoanalytische UntersuchungHerbert Gschwind1 Für Ulrich, Martin und Volkmar
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Publikationsdatum:
23. Dezember 2010 (online)

Übersicht:

Der Autor berichtet über seine Erfahrungen aus der psychoanalytischen Untersuchung und Behandlung von Männern, die sich selbst oder ihr Fantasieleben als pädophil bezeichnen. Er beschreibt psychostrukturelle Elemente, die er bei den von ihm untersuchten Fällen als zentral wichtig herausgearbeitet hat. Er macht deutlich, dass die pädosexuelle Objektwahl nur sehr beschränkt mit der Objektwahl des Hetero- oder Homosexuellen vergleichbar ist, da hier die regressiv belebten infantilen Sexualansprüche eines Erwachsenen mit erwachsenem Körper auf die noch infantile Sexualität von Kindern treffen. Besonders wichtig ist dem Autor, dass trotz teilweiser Verleugnung des Geschlechtsunterschiedes und Generationsunterschiedes das Objekt des pädosexuellen Mannes keineswegs „nur“ Kind ist, sondern immer entweder Junge oder Mädchen. Der Junge oder das Mädchen sind für ihn gleichzeitig Fetisch und Objekt. Die pädosexuelle Fantasie enthält immer Elemente der „rätselhaften Botschaften“, die in der nährenden und pflegenden Abhängigkeit von den Pflegepersonen unbewusst an das Kind gerichtet werden. Mit der einsetzenden Pubertät und dem Erwachsenwerden der Kinder verliert das „Sexualobjekt“ Kind seine psychische Doppelfunktion (Abwehr von Ängsten und Lustobjekt) für den pädosexuellen Mann. Die notwendig gewordene Trennung vom Sexualobjekt wird dann unzählige Male wiederholt, ohne dass sie die nie vollzogene innere Trennung von den Eltern ersetzen könnte. 

Literatur

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  • 4 Dannecker M. Sexueller Missbrauch und Pädosexualität. In: Sigusch V, Hrsg. Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. 4., überarbeit. u. erw. Aufl. Stuttgart, New York 2007; 295–299
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  • 19 Laplanche J. Inzest und infantile Sexualität.  Psyche – Z Psychoanal. 2009;  63 525-539
  • 20 Laufer M, Laufer M E. Adoleszenz und Entwicklungskrise. Stuttgart: Klett-Cotta 1994
  • 21 Lautmann R. Die Lust am Kind. Portrait des Pädophilen. Hamburg: Klein 1994
  • 22 Müller-Pozzi H. Eine Triebtheorie für unsere Zeit. Bern: Huber 2008
  • 23 Nabokov V. Lolita. Roman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 2001
  • 24 Penna S. Qual und Entzücken. 60 Gedichte italienisch und deutsch. Freiburg: Beck & Glückler 1985
  • 25 Reiche R. Die Rekonstruktion der zentralen Onaniephantasie in der Analyse eines jungen Homosexuellen. In: Dannecker M, Reiche R, Hrsg. Sexualität und Gesellschaft. Festschrift für Volkmar Sigusch. Frankfurt / M., New York: Campus 2000; 360–382
  • 26 Reiche R. Psychoanalytische Therapie sexueller Perversionen. In: Sigusch V, Hrsg. Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. 4., überarbeit. u. erw. Aufl. Stuttgart, New York 2007; 276–291
  • 27 Sigusch V. „Das Kind begehrt, aber nicht den Erwachsenen“. Der Freitag Nr. 14, 8. 4. 2010
  • 28 Stein R. Warum Perversion? „Verkehrte Liebe“ und der perverse Pakt. In: Junkers G, Hrsg. Verkehrte Liebe. Ausgewählte Beiträge aus dem International Journal of Psychoanalysis, Bd. 1. Tübingen: Edition Diskord 2006; 17–53
  • 29 Welldon E V. Perversionen der Frau. Gießen: Psychosozial-Verlag 2003
  • 30 Wurmser L. Flucht vor dem Gewissen. Analyse von Über-Ich und Abwehr bei schweren Neurosen. Berlin et al.: Springer 1993

1 „Wir haben den Begriff der Sexualität nur soweit ausgedehnt, daß er auch das Sexualleben der Perversen und das der Kinder umfassen kann. Das heißt, wir haben ihm seinen richtigen Umfang wiedergegeben. Was man außerhalb der Psychoanalyse Sexualität heißt, bezieht sich nur auf ein eingeschränktes, im Dienste der Fortpflanzung stehendes und normal genanntes Sexualleben“ (Freud 1917: 330).

2 Ruth Stein nennt dies einen „perversen Pakt“. Damit beschreibt sie für die Perversionen eine „Matrix von Übertragung und Gegenübertragung […] mit dem Patienten in der Rolle des erregenden, korrumpierenden Elternteils, während die Rolle des verwirrten, genarrten, erregten und beschämten Kindes dem Analytiker zufällt“ (Stein 2006: 29).

3 „Bis zu Dorothée hielt der Damm, der Damm, der die Scheiße auf der einen und die guten Sachen auf der anderen Seite hält, gut“. Es handelt sich um ein Zitat aus dem Roman „Rose Bonbon“ von Nicolas Jones-Gorlin (2002: 12–13), dessen Ich-Erzähler ein pädosexueller Mann ist. Sein Erscheinen im Jahr 2002 erregte in Frankreich so viel Aufsehen, dass der Innenminister überlegte, den Roman verbieten zu lassen. Er ist so etwas wie die Confessions eines Pädosexuellen, die unter psychoanalytischen Gesichtspunkten überaus aufschlussreich sind, auch wenn der „psychokakalyste“ nicht gut dabei wegkommen kann.

4 Diese Gleichung entspricht exakt dem Typus des Homosexuellen, wie ihn Freud in „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“ herausarbeitet. So gesehen formuliert Freud dort eigentlich eine Pädosexualitätstheorie für den pädosexuellen Mann mit einem gleichgeschlechtlichen Kind als Objekt. Der pädosexuelle Mann ist indes kein homosexueller Mann, der bekanntlich ein erwachsenes gleichgeschlechtliches Objekt begehrt, und ebenso wenig ist er ein heterosexueller Mann, der bekanntlich ein erwachsenes gegengeschlechtliches Objekt begehrt.

5 Zu erinnern ist, dass „Lolita“ schon zu Beginn keinen Vater hat – und dann wird vom Autor durch einen Unfall auch noch die Mutter beseitigt (eine durchaus komische Szene). Dann erst ist der Weg für Humbert-Vater zu Lolita frei.

6 Im Original lautet das Zitat: „Der Fetisch wird von anderen nicht in seiner Bedeutung erkannt, darum auch nicht verweigert, er ist leicht zugänglich, die an ihn gebundene sexuelle Befriedigung ist bequem zu haben.“ Es ist bemerkenswert, wie sich das Zitat durch die Umkehrung von Bejahung bzw. Verneinung an eine Gegenwart anschließt, in welcher der öffentlich gewordene pädosexuelle Missbrauch in genau der Schwebe sich befindet, von Alles-offen-Legen bis zur vorgängigen Verleugnung. Zugleich aber ist anzuerkennen, dass der Fetisch Kind, globalisiert betrachtet, tatsächlich „leicht zugänglich“ ist, sei es als Kinderpornographie im Netz und auf Reisen in Länder, in denen das verkaufte Kind, Junge wie Mädchen, den Unterhalt der Familie sichert. Das Video vom Gebrauch des Kindes kann dann wieder ins Netz gestellt werden.

7 Es ist „nicht die Verwandtschaftsbeziehung das Entscheidendende für die ursprüngliche Situation, in der sich der Infans befindet. Was vor allem zählt, ist der große Alters- und Entwicklungsunterschied mit all seinen Folgen: da stehen sich gegenüber ein Neugeborenes, das über keine angeborenen Sexualtriebe verfügt (nichts weist auf deren Existenz hin), und ein Erwachsener, der nicht nur mit seiner Erwachsenensexualität ausgestattet ist, sondern mit der aus seiner eigenen Kindheit stammenden infantilen Sexualität“ (Laplanche 2009: 530). Die Große ist zwar Mutter, aber für das Kind wird sie erst im Laufe seiner Entwicklung, nachträglich, zu dem, was wir unter Mutter begrifflich und emotional alles fassen.

8 „Ganz offensichtlich bedeutet Perversion mehr als einfach nur ‚unnatürliche‘ Kopulation. Sie ist vielmehr das Reich des Künstlichen, des Virtuellen, das Gebiet genetischer Manipulation, von Brandopfern und Genoziden, kapitalistischen Fetischen, alptraumartig veränderten Körpern und Klonexperimenten. Die meisten dieser Phänomene durchzieht eine verleugnete Grausamkeit und Destruktivität oder eine grässliche Entfremdung“ (Stein 2006: 22).

9 Es hat mich die Aufforderung, beispielsweise von Bewährungshelfern, immer wieder verwundert, der pädosexuelle Mann solle mit einer Frau oder einem homosexuellen Mann eine Beziehung suchen, um von seiner Neigung loszukommen oder wenigstens einen Beweis zu liefern, dass er es versucht.

Dr. med. Herbert Gschwind

Adalbertstr. 12 A

60486 Frankfurt am Main