Psychiatr Prax 2010; 37(6): 312-313
DOI: 10.1055/s-0030-1265793
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Das weiße Band - Eine deutsche Kindergeschichte

Drama, Kriegsfilm | Deutschland/Frankreich/Italien/Österreich 2009
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Publication Date:
01 September 2010 (online)

 

Regie: Michael Haneke

Zum Inhalt:

1913 in einem Dorf in Norddeutschland: bei einem Ausritt stolpert das Pferd des Arztes über ein zwischen Bäumen gespanntes Drahtseil und er muss für einige Monate ins Krankenhaus. Kurze Zeit später ist das Drahtseil verschwunden.

Dieses Ereignis bildet den Auftakt zu einer Reihe merkwürdiger Vorkommnisse: Im Sägewerk des Barons verunglückt eine Bäuerin tödlich, weil sie durch den Boden aus morschem Holz gestürzt ist. Daraufhin zerstört ihr Sohn die Kohlfelder des Barons. Ohne Bezug zu diesem Vorfall wird der Sohn des Barons entführt und am nächsten Tag halb tot geprügelt aufgefunden.

Weitere parallel laufende Handlungsstränge: der Dorfschullehrer, der als Chronist all diese Vorkommnisse erzählt, verliebt sich in das, in den Diensten des Barons stehende Kindermädchen; der Arzt kehrt aus dem Krankenhaus zurück und demütigt seine Geliebte, die Hebamme; der Pfarrer reglementiert seine Kinder mit strengsten Strafen. Schließlich wird der behinderte Sohn der Hebamme gefoltert, die Täter werden nie ermittelt.

Michael Haneke versteht sein Regie-Handwerk: als Zuschauer spüren wir die Enge, die Kontrolliertheit, die innere wie auch die äußere Unfreiheit der Akteure. Der Film zeichnet, eingebettet in eine Handlung, in der es um mysteriöse, "perverse" Verbrechen innerhalb einer kleinen Dorfgemeinschaft am Anfang des 20. Jahrhunderts geht, das Psychogramm einer bigotten, strengen und in mehrerer Hinsicht "harten" Gesellschaft: hart im Sinne einer erbarmungslosen Regulierung bzw. Unterdrückung vermeintlich "böser" Impulse und Gefühle; hart im Sinne eines als unverrückbar geltenden Wissens darüber, was richtig und was falsch, was gut und was böse ist; hart im Sinne von festgelegten, nicht zur Diskussion stehenden Rollen, Funktionen, hierarchischen Ordnungen und Verhaltenscodices, die den Menschen kaum Möglichkeiten lassen, ihre Individualität zu leben. Nichts ist wirklich lebendig, alles wirkt erstarrt. Die vom protestantischen Pfarrer proklamierte "Freude an der Schöpfung" kann nicht gespürt werden und man fragt sich, in der theologischen Argumentation bleibend, weshalb Jesus den Kreuzigungstod auf sich genommen hat, um "die Schuld von uns zu nehmen", wenn doch noch so viel da ist von dieser vermeintlich genommenen Schuld. Die Menschen wirken schuldbeladen und ständig Strafe erwartend.

"Das weiße Band" ist ein bewegender und irritierender Film, der nachwirkt. Je nachdem, mit welcher Brille man ihn anschaut, wirft er unterschiedliche Fragen auf. Durch die psychiatrisch-psychotherapeutische Brille gesehen, drängen sich Fragen auf, die um Art und Ausmaß der "Emo tionsregulation" kreisen. Eine davon: Wie gelang es doch so vielen Menschen dieser Kohorte, psychisch gesund zu bleiben? Weshalb zerbrachen diese Menschen nicht reihenweise an ihrem "invalidisierenden Umfeld", das ihnen ihre vermeintlich bösen aber menschlichen Impulse, Gefühle und Triebe nicht gestattete, sondern sie dazu nötigte, sie permanent zu leugnen und zu unterdrücken? War die Wirkung dieser Prozesse vielleicht deshalb weniger fatal, weil es zwar Härte gab, aber auch "Beziehung" und "Orientierung" da waren, die einem die subjektive Sicherheit vermittelten, wie man mit sich umzugehen hatte? War der Faschismus mit seinem gesellschaftlich sanktionierten und auf deutsche Weise durchnummerierten und sauber organisierten Hass die "ideale Lösung" für die sachgerechte Entsorgung all der unerwünschten "bö sen" und unterdrückten Impulse?

Der Film konfrontiert uns auch mit der Frage, wie wir es selbst mit unserer Gefühlsregulation halten und welche Orientierungen wir denen geben können, die danach verlangen: Halten wir es aus - im Gegensatz zum Dorfpfarrer - keine Gewissheit und Wahrheit darüber kund tun zu können, was gut und böse und was richtig und was falsch ist? Mit welchem "inneren Management" reagieren wir wohl am besten auf unseren Ärger, unsere Angst, unseren Neid, unsere Liebe und unseren Hass? Uns bleibt "nur" die wenig spektakuläre Botschaft, dass wir und unser Umfeld wohl dann die größte Chance haben, psychisch gesund zu bleiben, wenn wir dauerhaft den Mut aufbringen, das, was in uns vorgeht, wahr- und ernst zu nehmen und damit - letztlich doch - regulierend umzugehen. Aber in dieser Regulation können wir auch positiv unser "Gespanntsein", unser "Nicht-Fertig-Sein" und damit unsere Lebendigkeit spüren; das ist die gute Botschaft.

Matthias Krüger, Friedrichshafen

Email: matthias.krueger@tagesklinik-fn.de