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DOI: 10.1055/s-2005-866746
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Bedeutung der Versorgung psychischer Erkrankungen und Handlungsoptionen der Gesetzlichen Krankenversicherung
On the Importance of Care for the Mentally Ill and Options for Legal Health Care InsurancesPublikationsverlauf
Publikationsdatum:
07. April 2005 (online)
Die Bedeutung psychischer Erkrankungen und Verhaltensstörungen rückt für die Sozialversicherungsträger immer weiter in den Vordergrund.
Beim erstmaligen Rentenbezug durch die BfA im Jahr 2003 wegen verminderter Erwerbsunfähigkeit nehmen psychische und Verhaltensstörungen (Kapitel V ICD-10) mit einem Anteil von 38,4% den ersten Platz ein - mit mehr als doppelt so vielen Fällen wie bei den muskeloskeletalen Erkrankungen oder bei den Neubildungen [[1]]. Nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht ist die Lage dramatisch. Bei einem - im Vergleich zur Normalbevölkerung - um das 15-30fach erhöhte Risiko für Suizid steht ein großer Teil der über 11000 Selbsttötungen des Jahres 2002 in Deutschland im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen, etwa jeder siebte, der wegen schwerer Depression stationär behandelt wurde, nimmt sich im weiteren Verlauf das Leben [[2],[3]].
Die Gesetzlichen Krankenkassen verfügen über Routineleistungsdaten, die für Auswertungen im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten herangezogen werden können. Wir können damit die Leistungsentwicklung beschreiben, analysieren und Handlungsoptionen ableiten. Wichtige Kennzahlen und Analyseergebnisse hat die Techniker Krankenkasse frei zugänglich in ihren regelmäßig erscheinenden Gesundheitsberichten veröffentlicht [[4], [5], [6]]. Schwerpunkt des Gesundheitsreportes 2003 war die depressive Erkrankung. Bei der weiteren Analyse aller psychischen Erkrankungen konnten wir eine deutliche Zunahme der Arbeitsunfähigkeitstage je 100 Versicherungsjahre wegen psychischer und Verhaltensstörungen (Kapitel V des ICD-10) in den letzten Jahren feststellen: Von 2000 bis 2003 stieg die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage um 20% von 127 auf 151 Tage je 100 Versicherungsjahre.
Ursache für den Anstieg war weniger eine Zunahme der Arbeitsunfähigkeitsfälle als vielmehr eine Verlängerung der durchschnittlichen Falldauer auf 41 Tage im Jahr 2003.
Für eine andere gesetzliche Krankenkasse ermittelten Zielke und Limbacher dieselben Parameter mit einer analogen Entwicklung der Arbeitsunfähigkeitszeiten im Zeitverlauf [[7]]. Einzig die absoluten Zahlen wichen voneinander ab: Die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage bei der Techniker Krankenkasse lag stets um etwa ein Drittel höher. Das verdeutlicht die besondere Betroffenheit der Techniker Krankenkasse und den Grund für unsere Bemühungen, die Versorgung psychischer Erkrankungen zu analysieren und zu verbessern.
Aber auch Krankenkassen, die sich bisher nicht mit der Thematik befasst haben, werden Interesse an der Versorgungsoptimierung finden: Psychische Erkrankungsfälle mit ihren - im Vergleich zu anderen Erkrankungen - durchschnittlich fast vierfach verlängerten Krankenhausverweildauern werden allgemein nicht innerhalb der DRG-Systematik pauschal vergütet. Wir haben eine mittlere Verweildauer von 25 Tagen im bisherigen Jahr 2004 für psychische Erkrankungen ermittelt. Nach weiteren internen Analysen der Techniker Krankenkasse werden im Jahr 2004 psychische Erkrankungen mit 6% aller Krankenhausfälle 12% der gesamten Krankenhausausgaben ausmachen. Für das Jahr 2004 rechnen wir mit Krankenhauskosten für die fast 5,8 Mio. Versicherten der TK von über 250 Mio. für psychische Erkrankungen.
Aus weiteren Detailanalysen können potenzielle Versorgungsdefizite abgeleitet werden; dass solche Lücken auch im Bereich der psychiatrischen Versorgung zu bestehen scheinen, legen verschiedene Quellen nahe [[8],[9]]. Für das deutsche Gesundheitswesen und die depressiven Erkrankungen zeigten Schneider et al. das bekannte Problem der unzureichenden Diagnosestellung und Therapie auf und fordern eine Leitlinienschulung der Ärzte und eine bessere Zusammenarbeit zwischen Hausärzten, Psychotherapeuten, Psychiatern und Fachkliniken [[10]].
Nach Auffassung der Techniker Krankenkasse liegen die zentralen Defizite in der Versorgung psychisch Kranker in dem Zeitraum, der vergeht, bis die individuell adäquate Behandlung startet. Diesen Zeitraum, der zur Chronifizierung der Erkrankungen beiträgt, würden wir als Latenzphase bezeichnen und folgendermaßen einteilen:
1. Bewusstseinsphase - die Zeit, die vergeht, bis sich der Patient oder sein Umfeld über ein gesundheitliches Problem bewusst wird und ein Arzt aufgesucht wird.
2. Diagnosephase - beschreibt den Zeitraum, den der behandelnde Arzt benötigt, um das Vorliegen einer psychischen Störung zu diagnostizieren.
3. Erstbehandlungsphase - entweder ist die Behandlung erfolgreich oder es vergeht ein neuer Zeitraum, bis erkannt wird, dass eine Therapieänderung erforderlich ist.
4. Behandlungsphase - ist der Zeitraum, der vergeht, bis der Patient die individuell angemessene Therapie im ambulanten und/oder stationären Bereich erhält.
Die Ansatzpunkte für einen aktiven Beitrag der Krankenversicherungen zur Versorgungsoptimierung sind damit definiert: Es muss in erster Linie darum gehen, über die bestehenden engen Kommunikationswege mit den Versicherten Grundlagen für eine aktivere Patientenrolle zu schaffen sowie die vertraglichen Beziehungen mit den Leistungserbringern für Versorgungsprojekte auszubauen, die eine umgehende Diagnosestellung und eine optimale Behandlung der Patienten gewährleisten.
Ein zentrales Segment ist somit die Sensibilisierung des Patienten und seines persönlichen Umfeldes für psychische Erkrankungen. Ziel sollte es sein, eine Symptomaufmerksamkeit zu erreichen und der Stigmatisierung "psychisch krank" entgegenzuwirken, aber auch konkrete Hilfen, wie die Selbsthilfe oder weiterführende und evidenzbasierte Informationsquellen, anzubieten. Für eine Krankenversicherung ist das sehr leicht über die Mitgliederzeitschriften, den Internetauftritt, die häufig vorhandenen (telefonischen) Service-Center mit individueller Information aber auch über aktive Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zu verwirklichen.
Der Gesetzgeber hat mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz die Handlungsoptionen der Leistungserbringer und Krankenkassen für Versorgungsprogramme erweitert. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen sind aber immer noch nicht anwendungsfreundlich ausgestaltet, teilweise unsicher in der langfristigen Umsetzung oder haben hohe organisatorische und finanzielle Aufwände zur Folge, die nicht für die Versorgung der Kranken eingesetzt werden.
Dennoch lohnen sich Versorgungsprojekte, die letztendlich zur Weiterentwicklung der Versorgung beitragen können. Dabei können die Krankenkassen in Kooperation mit den Ärzten und Krankenhäusern konkrete Projekte entwickeln. Sie können ihre Versicherten in geeignete Programme steuern, ergänzende Angebote - beispielsweise zur Complianceförderung - bereithalten, die Qualitätssicherung der Leistungserbringer unterstützen oder Daten für die Versorgungsforschung liefern.
Drei Projekte der Techniker Krankenkasse seien an dieser Stelle beispielhaft genannt:
Im Rahmen des Projektes Internetbrücke werden Patienten nach Ende ihres Klinikaufenthaltes in der Panorama Fachklinik für Psychosomatik in Scheidegg von den Ärzten der Klinik über das Internet ärztlich weiterbetreut. Zusätzlich können die Patienten sich in einem Chatroom treffen und Probleme austauschen, wobei erfahrene Gruppentherapeuten die Moderation übernehmen. Das erleichtert den Patienten auszuprobieren, wie weit sie alleine zurecht kommen und kann ihnen helfen, kritische Übergangszeiten zu bewältigen und Wartezeiten zu überbrücken, wenn eine ambulante Weiterbehandlung nötig ist. Das Projekt richtet sich an Patienten mit psychosomatischen oder neurotischen sowie Persönlichkeitsstörungen. Das erste Zwischenresultat: Der Einsatz neuer Kommunikationstechnologien ist machbar, findet hohe Akzeptanz und verspricht einen effektiven Beitrag zur Erhaltungsstrategie und Rückfallprävention [[11]].
Das im Jahr 2004 gestartete Modellvorhaben Qualitätsmonitoring in der ambulanten Psychotherapie untersucht, ob der Einsatz von neu entwickelten Qualitätsmonitoringinstrumenten in der ambulanten Erwachsenenpsychotherapie zu einer höheren Ergebnisqualität führt. Dabei wird der Therapieverlauf unter besonderer Berücksichtigung der Patientensicht systematisch anhand von validierten Fragebogen verfolgt. Das Modellvorhaben ist Ende 2004 in den KV-Regionen Westfalen-Lippe, Hessen und Südbaden gestartet und wird von Prof. Dr. Wittmann von der Universität Mannheim sowie Prof. Dr. Lutz von der Universität Bern evaluiert [[12]].
Ein Beispiel zum Thema Leitlinien und sektorübergreifende Versorgung ist das laufende Modellvorhaben "Mehr Lebensqualität für Schizophreniekranke - Optimierung der poststationären Versorgung schizophrener Patienten durch leitliniengestützte ärztliche psychoedukative und soziotherapeutische Maßnahmen" im Raum Düsseldorf, das die Techniker Krankenkasse zusammen mit Prof. Dr. Gaebel federführend unter Beteiligung weiterer Ersatzkassen im Jahr 2003 initiiert hat. Um unnötige Zweit- und Drittaufenthalte im Krankenhaus zu vermeiden, erhalten Patienten im Anschluss an die stationäre Erstbehandlung eine auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnittene Therapie, die in Kooperation mit einem örtlichen Netzwerk von Fachärzten für Psychiatrie und Neurologen umgesetzt wird. Neben der Steigerung der Lebensqualität wollen die Projektpartner gleichzeitig nachweisen, dass durch die verbesserte Therapie die Behandlungskosten deutlich gesenkt werden können.
Diesem Projekt wurde der 1. Preis des Gesundheitspreises 2004 des Landes Nordrhein-Westfalen verliehen [[13]].
Weitere und viel versprechende Ansatzpunkte sind Verträge, die eine erfolgsorientierte Vergütung beinhalten. Die langfristigen Effekte einer optimalen Versorgung können anhand von medizinischen und ökonomischen Parametern, beispielsweise über Veränderungen der Leistungsinanspruchnahme, wie die Reduktion der Krankengeldzahlungen, gemessen werden.
Wenn Nettoersparnisse realisiert werden, dann lohnt sich eine höhere Vergütung für alle - für die Leistungserbringer, für die Krankenkassen und vor allem für die Patienten.
Literatur
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1 BfA. Homepage. Download über bfa.de, Zahlen und Fakten, Renten: http://www.bfa.de/ger/ger_zahlenfakten.8/ger_renten.84/ger_ 84_rz_icd10.html, recherchiert am 24.11. 2004.
- 2 Ahrens B . Freyberger HJ . Mortalität und Suizidalität bei psychischen Störungen. In: HJ Freyberger HJ, Schneider W, Steglitz R-D (Hrsg): Kompendium Psychiatrie, Psychosomatik, Psychosomatische Medizin. Basel: Krager,. 2002; 420-431
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3 Statistisches Bundesamt. Gesundheitsbericht für Deutschland. Gesundheitsberichtserstattung des Bundes/Statistisches Bundesamt. Stuttgart, Metzler-Poeschel, 1998. ISBN 3-8246-0569-4: S 221.
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4 Techniker Krankenkasse. Gesundheitsreport 1. Auswertungen 2000-2001. Arbeitsunfähigkeiten und Arzneimittelverordnungen. ISSN 1610-8450, 2002. Download über Internet, tk-online.de, Presse-Center, Publikationen: http://www.tk-online.de/centaurus/generator/tk-online.de/s03_presse-center/d01_gesundheitsreport/gesundheitsreport_ 2001.html.
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5 Techniker Krankenkasse. Gesundheitsreport 2. Arbeitsunfähigkeiten und Arzneimittelverordnungen. Schwerpunkt: Depressive Erkrankungen. ISSN 1610-8450, 2003. Download über Internet, tk-online.de, Presse-Center, Publikationen: http://www.tk-online.de/centaurus/generator/tk-online.de/s03_presse-center/07_publikationen/gesundheitsreport_2003_txt.html.
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6 Techniker Krankenkasse. Gesundheitsreport 3. Auswertungen 2004. Arbeitsunfähigkeiten und Arzneimittelverordnungen. Schwerpunkt Arzneiverordnungsdaten als Gesundheitsindikatoren. ISSN 1610-8450, 2004. Download über Internet, tk-online.de, Presse-Center, Publikationen: http://www.tk-online.de/centaurus/generator/tk-online.de/s03_presse-center/07_publikationen/gesundheitsreport_2004_txt.html.
- 7 Zielke M . Limbacher K . Fehlversorgung bei psychischen Erkrankungen. Download über Internet: http://www.presse.dak.de/ps.nsf/sbl/828702540CEDD7A3C1256EAE00447AFA, recherchiert am 24.11.2004.
- 8 Cassano P . Fava M . Depression and Public Health: An Overview. J Psychosm Res . 2002; 53 (4) 849-857
- 9 Goldman LS . Nielsen NH . Champion HC . Awareness, Diagnosis and Treatment of Depression. J Gen Intern Med. 1999; 14 (9) 569-580
- 10 Schneider F . Kratz S . Bermejo I . Menke R . Mulert C . Hegert U . Berger M . Gaebel W . Härter M . Subjectively-perceived inappropriate treatment of depressed patients in general and psychiatric practice. Z Arztl Fortbild Qualitatssich. 2003; 97 Suppl 4 57-66
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11 Techniker Krankenkasse. Projekt Internetbrücke. Download über Internet, tk-online.de, Suchfunktion "Internetbrücke" oder: http://www.tk-online.de/centaurus/generator/tk-online.de/m02_landesvertretungen/0859/r01_tk_spezial/02_nachrichten_und_hintergruende/02_psychisch_kranke.html.
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12 Techniker Krankenkasse. Projekt Qualitätsmonitoring in der ambulanten Psychotherapie. Download über Internet, tk-online.de, Suchfunktion "Qualitätsmonitoring" oder: http://www.tk-online.de/centaurus/generator/tk-online.de/dossiers/modell_psychotherapie/modell_psychotherapie_navi.html.
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13 Techniker Krankenkasse. Projekt Mehr Lebensqualität für Schizophreniekranke. Download über Internet, tk-online.de, Suchfunktion "Schizophreniekranke" oder: http://www.tk-online.de/centaurus/generator/tk-online.de/m02_landesvertretungen/0854/02_pressemitteilungen/02_2004/0330_schizophreniekranke.html.