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DOI: 10.1055/s-2006-926881
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Editorial
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
21. Juni 2006 (online)
Mit dem Krankenpflegegesetz von 1985 war für mich unter anderem die Hoffnung verbunden, weil endlich ein praktischer Einsatz für die Auszubildenden im Fach Psychiatrie festgeschrieben wurde, es würde im Lauf der Zeit mehr Fachkenntnisse und auch praktische Erfahrungen geben, die psychisch kranken Menschen in der allgemeinen Gesundheitsversorgung zugute kommen. Bis dahin hatte ich es immer wieder als Defizit erlebt, dass psychisch Kranke, die ins allgemeine Krankenhaus mussten, von den Kollegen dort gemieden wurden, meistens weil sie sich unsicher fühlten und befürchteten, etwas Falsches zu tun, etwas zu sagen, was vielleicht eine unverständliche Reaktion des Patienten auslösen könnte, mit der sie nicht zurecht kommen würden. Endlich, so hoffte ich, könnten mehr Menschen mit einer seelischen Erkrankung als bisher die „Psycho-Subkultur” verlassen, weil auch woanders im Gesundheitswesen als in spezialisierten Diensten und Einrichtungen ihnen mit weniger Vorbehalten, Unsicherheiten oder im schlimmsten Fall Ablehnung begegnet werden könnte.
Diese Hoffnung gründete sich bei mir auch auf die Erfahrung mit den Auszubildenden selbst. Die meisten von ihnen kamen in ihrem psychiatrischen Praxiseinsatz ganz gut zurecht, revidierten einen Teil ihrer vorher bestehenden Vorurteile, trauten sich im Lauf von wenigen Wochen zu, aus eigenem Antrieb mit psychisch kranken Patienten Kontakt aufzunehmen und zu pflegen. Sie profitierten dabei auch von den in vielen psychiatrischen Einrichtungen eingesetzten Altenpflegeschülern, deren Herangehensweise damals irgendwie selbstverständlicher war, zumindest in meiner Erinnerung.
Ich kenne viele Klienten des psychiatrischen Versorgungsnetzes, die nichts lieber unternehmen würden, als die psychiatrische Subkultur zu verlassen und die unerkannt an der „Normalität” teilhaben möchten. Sie möchten in keine psychiatrische Tagesstätte gehen, nicht in ein psychiatrisch spezialisiertes Heim, sondern in die normale Altentagesstätte oder - wenn sie dies brauchen - in ein normales Altenheim. Oder sie möchten am liebsten zu Hause vom Pflegedienst aus der Nachbarschaft die Unterstützung erhalten, die sie benötigen. Hier aber begegnen ihnen Mitarbeiter, die sich immer noch nicht trauen, sie zu integrieren. Die nach wie vor Angst haben, etwas falsch zu machen und dann die Hindernisse durch die erschwerte Beziehungsaufnahme des Klienten nicht überwinden können.
„Teilhabe am Leben in der Gesellschaft” hat sich in vielen psychosozialen Gremien inzwischen zu einer Art Zauberwort entwickelt, seit im Rahmen der Diskussion um das persönliche Budget erörtert wird, wie diese Teilhabe auch dem Personenkreis der psychisch Kranken zugänglich gemacht werden kann. Dabei ist auch vorgesehen, dass Unterstützungsleistungen für behinderte Menschen von Nicht-Profis erbracht werden. Dies ist aus meiner Sicht bei chronisch psychisch kranken und seelisch behinderten Menschen an die Bedingung geknüpft, dass der Helfer, egal ob er Profi ist oder nicht, in der Lage ist, die Beziehungsstörungen des Klienten zu sich selbst und/oder zu anderen und damit seine Störung der Selbstwahrnehmung als solche zu erkennen und daraus seine Interventionen abzuleiten. Gleichzeitig muss er vergrabene Ressourcen ausfindig machen und nutzen.
Dies ist doch das Einmaleins der Gesundheits- und Krankenpflege, könnte jetzt eingewandt werden. Richtig. Es entspricht jedoch leider nicht der alltäglichen Praxis. Nachdem jetzt ambulante psychiatrische Krankenpflege als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden kann und psychisch Kranke damit auch einen Anspruch auf diese Leistung haben, müssen sich die Berufsgruppe, der Gesetzgeber des neuen Gesundheits- und Krankenpflegegesetzes von 2004 und die Ausbildungsstätten fragen lassen, wie es denn erreicht werden soll, dass zumindest die pflegerischen Profis ihre Vorbehalte und ihre Scheu verlieren können, mit chronisch psychisch kranken Menschen das für sie Richtige zu tun. Aus meiner Sicht wäre es endlich angezeigt, dass die Schulen ihren Spielraum nutzen, das Aufgabengebiet psychiatrischer Versorgung im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu betonen, damit das Fachgebiet Psychiatrie den Stellenwert auch in der Ausbildung bekommt, den es in der Wirklichkeit hat.