PPH 2006; 12(6): 301
DOI: 10.1055/s-2006-927323
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Editorial

U. Villinger
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
13. Dezember 2006 (online)

„Wenn du arm bist, musst du früher sterben.” Dieser Buchtitel ist mir aus einer Weiterbildung 1988 in Erinnerung geblieben. Den Inhalt weiß ich noch zum Teil, den Autor habe ich vergessen. Die Zeit der „Gesundheitsreformen”, die immer nur Kürzungen von Gesundheitsleistungen bedeuteten, hatte ein paar Jahre zuvor begonnen und es ist bisher kein Ende dieser „Reformen” in Sicht. Zuerst traf es die suchtkranken Menschen, die erst etwa 15 Jahre zuvor Anspruch auf eine oder mehrere Entwöhnungsbehandlungen (Langzeittherapien) erhalten hatten: Sie sollten jetzt im Regelfall nur noch eine solche Langzeittherapie bekommen. Schon hier schlich sich der Gedanke ein, dass Suchtkranke ja selbst Schuld an ihrer gesundheitlichen Lage hätten. Kurz danach meinte eine Kollegin mir gegenüber, es lohne sich doch nicht, Suchtkranke mehrfach zu therapieren, sie würden ja doch nicht gesund. Ich bat die Kollegin, ihren Gedanken einmal auf dialysepflichtig nierenkranke Patienten zu übertragen. Die Lobbyisten der Hochleistungsmedizin hatten es meistens geschafft, die Interessen ihrer Klientel so zu vertreten, dass kein nierenkranker Patient aufgefordert wurde, nach spätestens zwei Jahren eine Spenderniere aufzutreiben, die dann auch noch vertragen wurde.

Seither sind kaum noch zählbare Einschränkungen über vor allem chronisch kranke und behinderte Menschen hereingebrochen, Zuzahlungen an jeder Ecke, die natürlich die weniger betuchten Menschen in diesem Land härter treffen als diejenigen, die gut verdienen und in Milieus leben, die weniger Krankheit und Behinderung produzieren. Gleichzeitig sind Bereiche nicht angetastet worden, in denen das Geld mit vollen Händen zum Fenster hinausgeworfen wird. Ein Beispiel sind Heime: Diese sind gezwungen, für ihre weniger selbstständigen Bewohner einen Liefervertrag mit einer niedergelassenen Apotheke abzuschließen, anstatt sich der Großapotheke des nächsten Kreiskrankenhauses anzuschließen, von wo sie die Medikamente zu einem Drittel der Kosten erhalten könnten. Und dazu noch zusätzlichen Verwaltungs- und Dokumentationsaufwand für alle Beteiligten ohne Ende. Warum ist dies so? Aus meiner Sicht, weil die Ideologie der Privatisierung und des Marktes als Gott oder Götze, zumindest als Heilige Kuh über alle anderen Überlegungen erhaben gemacht wurde. Diese Ideologie dient auf keinen Fall den Interessen der betroffenen Patienten, sondern ausschließlich anderen Interessen.

Bei der diesjährigen Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW), die unter dem Titel „Medizin und Gewissen - im Streit zwischen Markt und Solidarität” im Oktober in Nürnberg stattgefunden hat, stellte Prof. Dr. Steffie Woolhandler von der Harvard Medical School in Cambridge, USA, ihre Untersuchungsergebnisse zur Entwicklung von Qualität und Kosten im US-amerikanischen Gesundheitswesen seit der verstärkten Privatisierung und der Zurücknahme des öffentlichen Sektors vor. Sie sind erschreckend: Nicht nur, dass die Erreichbarkeit von Gesundheitsleistungen erschwert ist, das hätte man erwarten können, nein, auch die Sterblichkeitsquote an bestimmten untersuchten Erkrankungen ist rapide gestiegen, die Gesamtkosten ebenso. Außerdem treibt die Privatisierung des Gesundheitswesens zunehmend Menschen - auch aus dem Mittelstand - in den persönlichen Konkurs (siehe auch Tagungsbericht in diesem Heft).

Die ärztliche und nichtärztliche Gesundheitsversorgung in Deutschland haben die kritische Marke überschritten, bei der Menschen zu Schaden kommen und gleichzeitig weiterhin Geld an falschen Stellen ausgegeben wird (siehe auch Editorial 1/2006).

Auf der erwähnten Tagung wurde in einem anderen Vortrag ein Umfrage-Ergebnis präsentiert: Etwa 75 % der Menschen sind der Meinung, dass in diesem Land das Solidarprinzip im Gesundheitswesen gestärkt werden sollte, das heißt, dass alle Bürger für die Gesundheitsversorgung der 20 % der Bevölkerung einstehen, die 80 % der Gesundheitsleistungen brauchen - chronisch kranke, arme und alte Menschen. Unsere sogenannte Gesundheitspolitik marschiert in die entgegengesetzte Richtung. Und dies, obwohl es Alternativen dazu gibt, wie es uns andere Länder, vor allem in Skandinavien, vorexerzieren.