Nervenheilkunde 2019; 38(06): 358-359
DOI: 10.1055/a-0873-8801
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Nervenheilkunde

Zeitschrift für interdisziplinäre Fortbildung
Ekkehard Wilichowski
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12 June 2019 (online)

 
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Prof. Dr. med. Ekkehard Wilichowski Abteilung Neuropädiatrie Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Universitätsmedizin Göttingen (UMG)

Fortschritte bei Diagnostik und Therapie Neuromuskulärer Erkrankungen: Göttinger Heft II

Neuromuskuläre Erkrankungen stellen für alle behandelnden Disziplinen eine besondere Herausforderung dar. Die Gründe hierfür sind die großen klinischen Spannbreiten, die variablen Verläufe und die dadurch differenzierten Anforderungen an die interdisziplinäre Diagnostik. Seit den 1950er-Jahren hat sich die nerven- und muskelbioptische Morphologie zu einem diagnostischen Goldstandard entwickelt. Die Anwendung elektronenmikroskopischer Verfahren in den 1960er-Jahren und die Einführung immunhistochemischer Techniken in den 1980er-Jahren hat zu einer enormen Bereicherung der diagnostischen Möglichkeiten und des pathophysiologischen Verständnisses geführt. Komplexe Proteinnetzwerke und eine Fülle von Signalwegen sind so in Nerv und Muskel entdeckt und in ihren Interaktionen aufgeklärt worden. Durch die Anwendung sensitiver molekularer Techniken wird das Wissen über die Funktionen einzelner Proteine, Metabolite und ultrastruktureller Kompartimente immer detaillierter. So wird aktuell eine Fülle neuer Biomarker identifiziert, die in der klinischen Diagnostik und in der Erforschung Neuromuskulärer Erkrankungen zur Anwendung kommen – und zwar sowohl bei den erworbenen Erkrankungen als auch bei den genetischen Entitäten.

In dem Beitrag von Sabrina Zechel und Christine Stadermann wird am Beispiel der Myositis deutlich, wie sehr die Muskel-bioptische Diagnostik von der immunhistochemischen Analyse spezifischer Immunmarker profitiert. Sie trug wesentlich zu der aktuell diversifizierten Klassifikation entzündlicher Muskelerkrankungen bei. Wie wichtig die interdisziplinäre Betrachtung der muskelbioptischen und immunologischen Befunde bei der diagnostischen Einordnung der klinischen Symptomatik ist, zeigt der Beitrag von Peter Korstan, Jens Schmidt und ihren Koautoren. Sie beschreiben das „Göttinger Modell“, bei dem im Rahmen von interdisziplinären Fallkonferenzen die Befunde von Patienten aus den Blickwinkeln verschiedener Fachdisziplinen bewertet werden und in diagnostische und therapeutische Strategien münden.

Die Einführung des Next-Generation-Sequencing (NGS) ist ein weiterer diagnostischer Meilenstein. Es eröffnet die Möglichkeit, den ursächlichen genetischen Defekt nicht invasiv in einer relativ kurzen Zeit mit vertretbarem finanziellem Aufwand zu identifizieren und damit zu einer definitiven Diagnose zu gelangen. In einer früher kaum für möglich gehaltenen Zeit wurden und werden neue Gene und Genfamilien identifiziert, deren gestörte Funktionen nun mehr oder weniger spezifischen Neuromuskulären Erkrankungen zugeordnet werden konnten und können. Diese neuen Techniken bereicherten und akzelierten die molekulare Erforschung immens – und sie tun dies sehr erfolgreich weiterhin …

Wie gewinnbringend die Untersuchung von Biomarkern, die Analyse von Nerv- und Muskelbiopsien und die Identifikation der ursächlichen genetischen Defekte sind, davon zeugen 3 weitere Übersichtsartikel in diesem Heft. Alexander Mensch, Stephan Zierz und Torsten Kraya zeigen am Beispiel der distalen Myopathien, dass sich das genetische Spektrum erheblich erweitert und zu einer differenzierten Klassifikation geführt hat. Sie entwickeln daraus diagnostische Handlungspfade, die eine rasche spezifische Diagnosestellung ermöglichen. Michael Bartl, Michael Sereda und Koautoren beschreiben den eindrucksvollen Wissenszuwachs bei den Charcot-Marie-Tooth-Erkrankungen. Die Aufklärung der pathophysiologischen Mechanismen eröffnen bei diesen hereditären Neuropathien völlig neue Therapie-Optionen. Dass durch die molekulargenetische Aufklärung mittels NGS bislang pathophysiologisch getrennt angesehene Krankheitsbilder in neuen Erkrankungsgruppen zusammengefasst werden, wird in dem Beitrag von Peter Freisinger und Thomas Klopstock deutlich. Sie arbeiten heraus, dass neben der für die betroffenen Familien so wichtigen Diagnosestellung mit Konkretisierung der Prognose und genetischer Beratung die Erkenntnisse direkt in pathophysiologisch begründete Therapieansätzen münden können.

Aber nicht nur das klinische Wissen und die diagnostischen Handwerkzeuge haben sich in den letzten Jahrzehnten diversifiziert. Die symptomatischen Behandlungsoptionen wurden in den vergangenen Jahrzehnten überaus erfolgreich weiterentwickelt. Als Beispiele seien die hoch entwickelten orthopädischen Operationstechniken genannt, die personalisierten Beatmungsmodi, die modernen kardiotropen Arzneimittel und und und. Für eine Vielzahl von Neuromuskulären Erkrankungen wurden die Erfahrungen der interdisziplinären Behandlungsoptionen detailliert zusammengetragen und in Form von Empfehlungen oder als Leitlinien international publiziert. Sie haben bei sehr vielen Patienten zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität und der Prognose geführt.

Das Wissen um die molekularen Abläufe und Funktionsstörungen bei Neuromuskulären Erkrankungen hat darüber hinaus die Entwicklung innovativer molekularer Therapien ermöglicht. Diese modifizieren entweder die Auswirkungen des genetischen Defekts auf molekulargenetischer Ebene oder greifen kompensierend in gestörte Signalwege und Proteinnetzwerke ein. Der „Orphan Drug Status“ derartiger Arzneimittel hat sicher dazu beigetragen, dass momentan so viele Pharmaunternehmen klinische Studien auf den Weg gebracht haben und noch bringen werden. Davon zeugt die Übersicht von Moritz Metelmann, Max Holzer und Andreas Hermann zum aktuellen Stand kausaler Therapien der Amyotrophen Lateralsklerose. Sie zeigen, dass mittels Inhibitoren und Anti-Oxidantien die gestörten Signalkaskaden und Proteinnetzwerke spezifisch beeinflusst werden sollen. Über die klinische Anwendbarkeit und die klinischen Effekte von Nusinersen, einem für die Behandlung der Spinalen Muskelatrophie seit 2017 zugelassenen Arzneimittel, berichten abschließend Alma Osmanovic, Olivia Schreiber-Katz und ihre Koautoren. In ihrem Artikel verdeutlichen sie die Machbarkeit und Verträglichkeit dieser kausalen Therapie bei Patienten mit Typ 2–4.

Die genannten Beiträge dokumentieren eindrucksvoll die rasanten Entwicklungen im Verständnis der molekularen Pathophysiologie und das daraus erwachsende Potenzial für die Entwicklung neuer Therapiestrategien. Sie zeigen, dass die Neuromuskulären Erkrankungen die Vorreiter sind bei der erfolgreichen Transition „From bench to bedside“.


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Prof. Dr. med. Ekkehard Wilichowski Abteilung Neuropädiatrie Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Universitätsmedizin Göttingen (UMG)