Psychiatr Prax 2021; 48(04): 171-172
DOI: 10.1055/a-1463-8731
Editorial

Suchterkrankungen in der ICD-11

Addictive Disorders in ICD-11
Stefan Gutwinski
1   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Charité Universitätsmedizin Berlin
2   Psychiatrische Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig Krankenhaus
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Stefan Gutwinski

Die Veränderungen der diagnostischen Systeme des ICD und DSM in den letzten Jahrzehnten bedeuteten in einigen Fällen weitreichende klinische Veränderungen. Zum Teil nur wenig umfangreiche Änderungen in den Formulierungen diagnostischer Kategorien, wie beispielsweise bezüglich des ADHS oder der Suchterkrankungen, hatten zum Teil weitgehende Folgen. So führte die Erweiterung der ADHS-Diagnose im DSM-IV mit dem „unaufmerksamen” Subtyp laut Robison zu einer Zunahme von Diagnosen, insbesondere bei Mädchen [1]. Gleichermaßen können sich aber auch Chancen ergeben, wie die Anerkennung der Substanzabhängigkeit als Erkrankung im ICD-8 bzw. ICD-9 und die sich daraus ergebenden Suchtbehandlungen [2].

Entsprechend waren auch die Veränderungen im ICD-11 gegenüber dem ICD-10 mit großen Erwartungen behaftet. Insbesondere im Bereich der diagnostischen Kategorisierung der Substanzgebrauchsstörungen waren Neuerungen erwartet worden, da das DSM-5 im Jahr 2013 die diagnostische Unterscheidung der 2 Kategorien der Substanzabhängigkeit und des schädlichen Gebrauchs zugunsten einer gemeinsamen Kategorie aufgegeben hatte [3]: Im DSM-5 hatte man eine dimensionale Kategorie eingeführt, welche mit 12 Kriterien leichte, mittlere und schwere Substanzgebrauchsstörungen unterscheidet [2]. Dieses Konzept schien auf den ersten Blick pragmatisch und einfach anzuwenden. In Studien wies diese Einteilung aber Probleme auf, da sich Unterschiede in der diagnostischen Zuordnung gegenüber den bestehenden Diagnosesystemen des ICD-10 und DSM-IV zeigten und es im Vergleich mit anderen Diagnosesystemen zu substanziellen Unterschieden bei der Diagnose einer schweren Form bzw. Abhängigkeitserkrankung kommt [2] [3] [4] [5]. Zudem setzte das DSM-5 die Tradition des DSM-IV fort, dass soziale Probleme, die sich vorwiegend aus der Legalisierung oder juristischen Konsequenzen des jeweiligen Drogenkonsums ergeben können, die Diagnose einer Substanzgebrauchsstörung ermöglichen [3].

Demgegenüber wird die ICD-11 die beiden klinischen Kategorien der Abhängigkeit und des schädlichen Gebrauchs beibehalten. Dies kann aus klinischer Perspektive sinnvoll sein, denn so können spezifische therapeutische Interventionen für diese abgrenzbaren Syndrome angeboten werden. Die ICD-11 schafft zudem durch die Einführung von Unterkategorien, z. B. der einzelnen Episode, der wiederholten Episoden und des andauernden schädlichen Gebrauchs, auch dimensionale Unterscheidungsmöglichkeiten. Auch hinsichtlich der Abhängigkeit wird es Unterscheidung geben, unter anderem kann zukünftig die Abstinenz bei Abhängigkeit als solche klassifiziert werden. Dies ist positiv, denn bisher werden Menschen mit Alkoholabhängigkeit zum Teil lebenslang mit der Diagnose der Abhängigkeit codiert und es ist anhand der Codierung nicht ersichtlich, ob sie weiter konsumieren oder abstinent sind.

Eine weitreichende Veränderung in der ICD-11 betrifft die diagnostischen Kriterien der Substanzabhängigkeit, welche noch nicht final veröffentlicht sind, aber von Mitgliedern der Arbeitsgruppen der WHO in Vorversionen publiziert wurden [6]. Die ICD-10 umfasst bisher noch 6 Kriterien, von denen 3 zur Diagnosestellung erfüllt sein müssen. Zukünftig werden diese 6 Kriterien in 3 Doppelkriterien zusammengefasst, von denen dann nur noch 2 erfüllt sein müssen. Diese Vereinfachung erscheint aber als problematisch, denn es wird zukünftig klinische Konstellationen geben, bei denen 2 Kriterien, die jeweils Bestandteil eines Doppelkriteriums sind, zur Diagnosestellung der Abhängigkeit ausreichen [7]. Dadurch kann die Schwelle zur Diagnosestellung abgesenkt werden. Erste klinische Studien der WHO in 10 Ländern und mit über 12 000 Teilnehmern weisen darauf hin, dass unter Anwendung des ICD-11 die Diagnosen von Alkohol- und Cannabisabhängigkeit häufiger gestellt werden [4].

Auch in den Formulierungen der Kriterien der Substanzabhängigkeit gibt es einzelne Punkte, die gegebenenfalls mit Sorge zu betrachten sind, natürlich unter Vorbehalt, da die endgültigen Kriterien noch nicht veröffentlicht sind. So gilt bisher im ICD-10, dass der Konsum „trotz Auftreten schädlicher Folgen“ fortgeführt wird. Dagegen lautet in den Vorabversionen die Formulierung der fortgeführte Konsum trotz „Auftreten von Problemen“ oder „negativer Konsequenzen“. Probleme und negative Konsequenzen sind aber vage Formulierungen und damit ergibt sich die Möglichkeit, dass auch soziale Probleme als Kriterien definiert werden können. Soziale Probleme könnten aber, wie schon oben angemerkt, für konsumierende Personen bereits dann auftreten, wenn in einzelnen Ländern und Kulturen Alkohol, Cannabis oder anderen Substanzen verboten sind. Die endgültigen Formulierungen der Kriterien der WHO bleiben daher abzuwarten.

In der ICD-11 wird es zusätzlich eine Neubewertung des pathologischen Glückspielens und des pathologischen Spielens geben. Diese Verhaltenssüchte werden gemeinsam mit den Substanzgebrauchsstörungen unter der Überschrift Disorders due to substance use or addictive behaviours zusammengeführt. Angesichts intensiver Diskussion in den letzten Jahren hinsichtlich der Neubewertung der Verhaltenssüchte repräsentiert die ICD-11 damit die aktuelle klinische und wissenschaftliche Einordnung dieser Verhaltenssüchte als Suchterkrankung [8] [9] [10]. Bisher sind die Kriterien zur Diagnosestellung von pathologischem Glücksspielen und pathologischem Spielen von der WHO noch nicht veröffentlicht, sondern nur eine Beschreibung, welche 3 Merkmale unterscheidet. Hierbei liegt der Schwerpunkt auf dem Kontrollverlust, dem fortdauernden Gebrauch und der zunehmenden Priorisierung. Klinisch relevant ist die Frage, wie diese Beschreibungen in die Diagnosekriterien umgemünzt werden und wie viele Kriterien zur Diagnosestellung erfüllt sein müssen. Auch in diesem Fall bleibt die Veröffentlichung der Kriterien durch die WHO abzuwarten. Möglicherweise steckt in der Neubewertung des pathologischen Spielens, einschließlich dem exzessiven Videospielen, ein weiterer strittiger Punkt, wenn hier ein exzessives Verhalten zu einer Suchterkrankung pathologisiert wird. Entscheidend wird daher sein, wie hoch oder niedrig die Schwelle zur Diagnosestellung definiert wird.


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Interessenkonflikt

Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

  • Literatur

  • 1 Robison LM, Skaer TL, Sclar DA. et al. Is attention deficit hyperactivity disorder increasing among girls in the US? Trends in diagnosis and the prescribing of stimulants. CNS drugs 2002; 16: 129-137
  • 2 Gutwinski S, Kienast T, Lindenmeyer J. et al. Alkoholabhängigkeit – Ein Leitfaden zur Gruppentherapie. Stuttgart: Kohlhammer; 2016
  • 3 Heinz A, Friedel E. Wichtige Änderungen im Bereich der Suchterkrankungen. Nervenarzt 2014; 85: 571-577
  • 4 Degenhardt L, Bharat C, Bruno R. et al. Concordance between the diagnostic guidelines for alcohol and cannabis use disorders in the draft ICD-11 and other classification systems: analysis of data from the WHOʼs World Mental Health Surveys. Addiction 2019; 114: 534-552
  • 5 Lago L, Bruno R, Degenhardt L. Concordance of ICD-11 and DSM-5 definitions of alcohol and cannabis use disorders: a population survey. Lancet Psychiatry 2016; 3: 673-684
  • 6 Saunders JB, Degenhardt L, Reed GM. et al. Alcohol Use Disorders in ICD-11: Past, Present, and Future. Alcohol Clin Exp Res 2019; 43: 1617-1631
  • 7 Heinz A, Halil M, Gutwinski G. et al. ICD-11: Änderungen der diagnostischen Kriterien der Substanzabhängigkeit. Nervenarzt 2021; DOI: 10.1007/s00115-021-01071-7.
  • 8 Aarseth E, Bean AM, Boonen H. et al. Scholars’ open debate paper on the World Health Organization ICD-11 Gaming Disorder proposal. J Behav Addict 2017; 6: 267-270
  • 9 Romanczuk-Seiferth N, van den Brink W, Goudriaan AE. From symptoms to neurobiology: pathological gambling in the light of the new classification in DSM-5. Neuropsychobiology 2014; 70: 95-102
  • 10 Griffiths MD, Kuss DJ, Lopez-Fernandez O. et al. Problematic gaming exists and is an example of disordered gaming. J Behav Addict 2017; 6: 296-301

Korrespondenzadresse

Dr. med. Stefan Gutwinski
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Charité – Universitätsmedizin Berlin
Charitéplatz 1
10117 Berlin
Deutschland   

Publication History

Article published online:
06 May 2021

© 2021. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

  • Literatur

  • 1 Robison LM, Skaer TL, Sclar DA. et al. Is attention deficit hyperactivity disorder increasing among girls in the US? Trends in diagnosis and the prescribing of stimulants. CNS drugs 2002; 16: 129-137
  • 2 Gutwinski S, Kienast T, Lindenmeyer J. et al. Alkoholabhängigkeit – Ein Leitfaden zur Gruppentherapie. Stuttgart: Kohlhammer; 2016
  • 3 Heinz A, Friedel E. Wichtige Änderungen im Bereich der Suchterkrankungen. Nervenarzt 2014; 85: 571-577
  • 4 Degenhardt L, Bharat C, Bruno R. et al. Concordance between the diagnostic guidelines for alcohol and cannabis use disorders in the draft ICD-11 and other classification systems: analysis of data from the WHOʼs World Mental Health Surveys. Addiction 2019; 114: 534-552
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  • 6 Saunders JB, Degenhardt L, Reed GM. et al. Alcohol Use Disorders in ICD-11: Past, Present, and Future. Alcohol Clin Exp Res 2019; 43: 1617-1631
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  • 9 Romanczuk-Seiferth N, van den Brink W, Goudriaan AE. From symptoms to neurobiology: pathological gambling in the light of the new classification in DSM-5. Neuropsychobiology 2014; 70: 95-102
  • 10 Griffiths MD, Kuss DJ, Lopez-Fernandez O. et al. Problematic gaming exists and is an example of disordered gaming. J Behav Addict 2017; 6: 296-301

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