Fortschr Neurol Psychiatr 2022; 90(10): 445-446
DOI: 10.1055/a-1922-1265
Editorial

Wo sterben Menschen mit neurologischen Erkrankungen?

Where do people with neurological diseases die?
Claudia Sommer

Liebe Leserinnen und Leser,

die Beträge im aktuellen Heft haben mich wieder einmal sehr zum Nachdenken gebracht. Der Charme der „Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie“ liegt nicht zuletzt darin, dass auch die überwiegend neurologisch tätigen Ärztinnen und Ärzte für Neurologie und Psychiatrie, zu denen ich mich zähle, in regelmäßigen Intervallen mit dem benachbarten Fachgebiet konfrontiert werden.

Aus dem Artikel über die Soziale Angststörung von Plag und Hoyer [1] habe ich viel gelernt. Was soziale Kontakte mit uns machen, und was das Fehlen der solchen mit uns macht, haben wir nicht zuletzt in Zeiten des Lock-downs intensiv diskutiert. Mehrere Studien berichten über die Folgen der Vereinsamung während der Pandemie, vor allem bei älteren Menschen [2]. Die Pandemie trug bei dieser in mehreren Aspekten vulnerablen Bevölkerungsgruppe zur Einsamkeit und sozialen Isolation bei. Darüber hinaus erlebten ältere Erwachsene Angst im Zusammenhang mit COVID, die Angst, sich mit der Krankheit zu infizieren und daran zu sterben. Auch aus eigener Erfahrung, insbesondere, als die strengen COVID Regeln gelockert wurden, und es erstmals wieder möglich war, Familie und Freunde zu treffen, erleben wir soziale Kontakte als etwas Positives, Belebendes, Bereicherndes. Was aber passiert mit den Menschen, die aus diesem Schatz der menschlichen Interaktion nicht schöpfen können, weil der soziale Kontakt selbst angsterregend ist? Dies wird in dem Artikel von Plag und Hoyer klar [1]: Betroffene haben eine deutliche Furcht, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten. Dadurch vermeiden sie, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder Situationen, in denen sie sich möglicherweise peinlich verhalten könnten. Die Ängste treten in sozialen Situationen auf, wie beim Essen oder Sprechen in der Öffentlichkeit, aber auch einfach bei Begegnungen von Bekannten und in Gruppen, wie bei Partys oder auf Konferenzen. Symptome sind Erröten und Zittern sowie Störungen der autonomen Funktion wie Miktions- oder Defäkationsdrang bzw. Angst, dass diese eintreten könnten. Die Betroffenen sind durch die Angstsymptome deutlich emotional belastet und zeigen ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten. Erstaunlicherweise wurde die soziale Angststörung erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts systematisch untersucht. Wahrscheinlich liegt es daran, dass die Abgrenzung zur normalen Anspannung und Aktivierung des autonomen Nervensystems in sozialen Situationen über lange Zeit schwierig war. Erfreulicherweise stehen eine Reihe von Therapieverfahren für die soziale Angststörung zu Verfügung, die in dem genannten CME-Artikel klar dargelegt werden.

Ein Beispiel, bei dem Neurologen oft an ihre Psychiatrie-Ausbildung erinnert werden, sind die psychischen Komorbiditäten bei M. Parkinson. Hierzu gehören auch die Halluzinationen, über die Weiss und Kollegen in der aktuellen Ausgabe schreiben [3]. Psychosen sind bei M. Parkinson häufig, sie treten bei ca. 20% im Verlauf der Erkrankung auf. In fortgeschrittenen Stadien sind bis zu 70% davon betroffen. Am häufigsten sind visuelle Halluzinationen, aber auch Illusionen, Wahnvorstellungen und paranoide Wahrnehmungsverarbeitung können vorkommen. Interessanterweise spricht man bei einer bestimmten Symptomatik (z. B. Präsenz-Halluzinationen, illusionäre Verkennungen) von „benignen“ Halluzinationen. Allerdings können auch diese im Krankheitsverlauf für Patienten und Angehörige sehr belastend sein. Viele Patienten sehen zwar ihre Halluzinationen, können sie aber als solche erkennen, weswegen man von Pseudohalluzinationen spricht. Bei den Überlegungen zur Pathophysiologie ist es interessant, dass Pseudohalluzinationen schon in der Prodromalphase des M. Parkinson, also vor dem Auftreten motorischer Symptome vorkommen können. Daher nimmt man an, dass es sich um eine direkte Folge der α-Synukleinopathie, und nicht eine Folge der Therapie handelt. Therapeutisch sind vor der Gabe von Antipsychotika, von denen nur wenige beim M. Parkinson indiziert sind, zahlreiche andere Maßnahmen zu ergreifen, wie die Reduktion von auslösenden Faktoren, Anpassung der dopaminergen Therapie und ggf. Verhaltenstherapie, wie bei Weiss et al. nachzulesen ist [3].

Ein weiteres Thema aus dem aktuellen Heft möchte ich gern noch aufgreifen: Eine Beobachtungsstudie zu Sterbeorten aus Deutschland [4]. Der Artikel kommt aus der zentralen Einrichtung für Palliativmedizin in Münster und bezieht sich auf sämtliche Todesbescheinigungen der Stadt Münster des Jahres 2017. Hierdurch konnten die Daten von fast 4000 Verstorbenen ausgewertet werden. Darunter waren fast 700 mit neurologischen Krankheiten, allerdings war hierbei die Diagnose „Demenz“ am häufigsten mit 485 Personen. Am zweithäufigsten war die Diagnose „Hirnmetastase“ mit 102 betroffenen. Wer verstarb wo? Die Patienten mit ALS (allerdings nur =6) verstarben überwiegend zu Hause, die mit primärem Hirntumor im Krankenhaus, diejenigen mit Hirnmetastasen im Hospiz, und die Demenzpatienten, wie erwartet, überwiegend im Pflegeheim. Was lernen wir aus diesen Zahlen? Der Sterbeort variierte je nach Grunderkrankung deutlich. Jede der genannten Krankheiten kann einen komplexen pflegerischen und medizinischen Versorgungsbedarf hervorrufen, der ja nach Situation die Behandlung in einem Krankenhaus, auf einer Palliativstation oder in einem Hospiz erfordern kann. Die Autoren Dasch und Lenz betonen, dass in 2017 die Versorgung der Stadt Münster mit Palliativ- und Hospizbetten schon deutlich besser war als im Bundesdurchschnitt, so dass die Zahlen nicht auf ganz Deutschland verallgemeinert werden können. Der Artikel lässt auch darüber nachdenken, welches Sterben, oder ein Sterben an welchem Ort wünschenswert wäre. Auch das lässt sich keineswegs verallgemeinern. Die allerwenigsten der Patienten mit den in dieser Studie genannten neurologischen Erkrankungen starben zu Hause. Während dies aus unserem traditionellen Verständnis und der Idee der Selbstbestimmtheit vielleicht bedauerlich scheint, müssen die physischen und psychischen Grenzen pflegender Angehöriger, die gerade bei den älteren Patienten selbst hochbetagt sein können, berücksichtigt werden. An welchem Ort auch immer, eine würdevolle und bedarfsgerechte Versorgung sterbender Menschen muss das Ziel sein. Dieser Artikel sensibilisiert und für das Thema und gibt uns Impulse zur Reflexion.



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Article published online:
17 October 2022

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