Diabetologie und Stoffwechsel 2010; 5(1): 30-31
DOI: 10.1055/s-0030-1247232
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York

Hypoglykämie und Diabetestherapie – gibt es einen Paradigmenwechsel?

Hypoglycaemia and Diabetes Therapy – Is There a Change in Paradigms?A. Fritsche1 , B. Gallwitz2
  • 1Medizinische Klinik, Abteilung IV, Universität Tübingen
  • 2Medizinische Klinik, Abteilung IV, Universität Tübingen
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Publication Date:
24 February 2010 (online)

Hypoglykämien werden in der Diabetestherapie oft noch als lästige, aber seltene und ungefährliche Begleiterscheinung angesehen. Häufig werden in der Bevölkerung Hypoglykämien mit leichten Hungerzuständen verwechselt, wie sie jeder Mensch im Tagesverlauf verspüren kann. Sie werden nicht mit lebensbedrohlichen Zuständen, Koma, Krampfanfall und Tod in Verbindung gebracht. Es herrscht – auch bei Ärzten – die Meinung vor, dass gerade Typ-2-Diabetespatienten doch eigentlich kaum Hypoglykämien haben. Nun liegen zwar keine verlässlichen Zahlen, beispielsweise für insulinbehandelte Typ-2-Diabetespatienten, im Seniorenbereich oder in Pflegeheimen vor. Man kann sich aber manchen apoplektischen Insult mit und ohne Todesfolge als hypoglykämiebedingt vorstellen. Eine aktuellere Übersichtsarbeit von Stephanie Amiel [1] findet in England, dass sowohl 25 % der befragten Typ-2-Diabetespatienten mit einer Krankheitsdauer von mehr als 5 Jahren als auch 22 % der befragten Typ-1-Diabetespatienten mit einer Krankheitsdauer von unter 5 Jahren angaben, wenigstens eine schwere Hypoglykämie innerhalb von 9–12 Monaten gehabt zu haben. 

Hypoglykämien sind also ein häufiges Problem, bei Typ-1- wie auch bei Typ-2-Diabetespatienten. Sie sind unbestritten auch bedrohlich und können im schlimmsten Fall zum Tode führen. Aber auch sogenannte leichte Hypoglykämien können den Alltag des Patienten schwer belasten. Gerade auch nächtliche Hypoglykämien sind von Patienten gefürchtet, besonders wenn sie alleine leben. Alleine lebende Typ-2-Diabetespatienten, deren Lebenspartner gestorben ist, sind hier besonders betroffen. Lang schon ist für Typ-1- und Typ-2-Diabetespatienten bekannt, dass jede leichte Hypoglykämie ein Risikofaktor für eine schwere Hypoglykämie sein kann [1]. Viele „leichte“ Hypoglykämien führen über eine Reduktion der Katecholaminantwort und Erniedrigung der betaadrenergen Sensitivität zu dem Phänomen der Hypoglykämiewahrnehmungsstörung, das eng mit der schweren Hypoglykämie assoziiert ist [1] [2] [3] [4] . Somit ist es unangebracht, von „leichten“ Hypoglykämien zu sprechen, vielmehr sind vermehrt auftretende leichte Hypoglykämien immer die Vorstufe zu einer schweren Hypoglykämie. 

Neben den evidenten dramatischen Folgen einer schweren Hypoglykämie wie Bewusstlosigkeit, Lähmungen und Krampfanfällen, der belastenden Angst vor Hypoglykämien, auch und vor allem für die Angehörigen von Diabetespatienten zeigen neuere Studien auch, dass Hypoglykämien mit vermehrter kardiovaskulärer Mortalität [5] [6] [7] und mit einer erhöhten Rate an Demenzerkrankungen [8] verbunden sind. Somit gibt es in der Diabetestherapie zwei gleichwertige Ziele: durch Glykämieabsenkung Folgeerkrankungen vermeiden und dabei Hypoglykämien vermeiden. Dabei ist für Typ-1- und Typ-2-Diabetespatienten bekannt, dass die Rate von leichten und schweren Hypoglykämien mit der Absenkung des HBA1c-Wertes ansteigt, und zwar nicht linear, sondern in Form einer Hyperbel (siehe Abbildung). Die Gefahr der Hypoglykämie steigt also bei einem HBA1c-Wert von unter 8 % stark an. In der Diabetestherapie muss deshalb bei jedem Patienten aufs Neue ein Balanceakt zwischen Vermeidung von Folgeerkrankungen und Vermeidung von Hypoglykämien vollzogen werden.

Abb. 1a Zusammenhang zwischen HBA1c und schweren Hypoglykämien bei Typ-1-Diabetespatienten (nach DCCT-Studie [13]). b Zusammenhang zwischen HBA1c und nächtlichen Hypoglykämien bei Typ-2-Diabetespatienten, die mit NPH-Insulin (durchgezogene Linie) und langwirksamen Analoginsulin (gestrichelte Linie) behandelt wurden [11]. Bei gleicher Hypoglykämierate ist mit NPH-Insulin ein HBA1c von 8,8 %, mit dem langwirksamen Insulinanalogon ist ein HBA1c von 6,5 % erreichbar.

Daher sind in der pharmakologischen Therapie des Typ-2-Diabetes mellitus mit oralen Antidiabetika solche Medikamente zu bevorzugen, die keine Hypoglykämien induzieren. Hierzu gehören die insulinsensitivitätssteigernden Medikamente Metformin und Glitazone. Bei den insulinotropen Therapieformen ist eine Therapie mit den glukoseabhängig wirkenden DPP-4-Inhibitoren oder mit den ebenfalls glukoseabhängig wirkenden GLP-1-Rezeptoragonisten besonders dann zu erwägen, wenn als Therapieziel eine Hypoglykämievermeidung (z. B. Faktoren der Berufstätigkeit, Begleiterkrankungen, Patientensicherheit) oder die Kontrolle des Körpergewichts mit im Vordergrund steht. Bei den oralen Medikamenten sind DPP-4-Inhibitoren den Sulfonylharnstoffen in der Kombination mit Metformin in der Verbesserung glykämischer Parameter nicht unterlegen, sie haben aber die Vorteile der fehlenden Hypoglykämiegefährdung und der Gewichtsneutralität. Es ist aus diesen genannten Gründen denkbar, dass in Zukunft bei Vorliegen günstiger Studienergebnisse aus Langzeitstudien DPP-4-Inhibitoren die Sulfonylharnstoffe als orale Medikamente mit insulinsekretagogischer Wirkung ablösen könnten [9]. GLP-1-Rezeptoragonisten haben bei Patienten mit Metforminversagen den Vorteil ebenfalls ohne intrinsisches Hypoglykämierisiko den Stoffwechsel zu verbessern und darüber hinaus einen Gewichtsverlust zu ermöglichen. Als injektabile Therapie ist diese Behandlungsform eine Alternative zur Einleitung einer Insulintherapie [9] [10] . 

Bei der Insulintherapie des Typ-1- und Typ-2-Diabetes mellitus sind solche Insuline zu bevorzugen, die bei gleicher glykämiesenkender Potenz mit geringerer Hypoglykämierate einhergehen. Vor allem für die lang wirkenden Insulinanaloga ist dies wiederholt gezeigt worden [11] [12] (siehe Abbildung). Auch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) kommt in seinem „Bericht zur Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 mit lang wirkenden Insulinanaloga“ zum Schluss, dass diese langwirksamen Insulinanaloga insbesondere die Häufigkeiten der schädlichen Hypoglykämien vermindern. Jedoch wird in der Zusammenfassung und Bewertung das „Bestehen eines Zusatznutzens“ verneint. Ein Zusatznutzen wird auch für die Therapie des Typ 1 mit lang wirkenden Insulinanaloga verneint, obwohl auch hier die Rate der schweren Hypoglykämien vermindert wird. Warum eine solche Diskrepanz zwischen „Feststellung einer erniedrigten Hypoglykämierate durch langwirksame Insulinanaloga“ und „Ablehnung eines Zusatznutzens von langwirksamen Insulinanaloga“ zustande kommt, kann nur mit einer Unterbewertung der Gefahr von Hypoglykämien erklärt werden. Dies ist, wie sich aus dem oben Gesagten ergibt, eine „Fehleinschätzung“, welche Patienten gefährden könnte. 

Hierauf hat die deutsche Diabetesgesellschaft mit einem offenen Brief und Stellungnahmen zum IQWiG-Bericht reagiert. Es wurde festgestellt, dass Hypoglykämien jedem Patienten über multiple Mechanismen schaden. Ein Schaden darf aus ärztlicher Sicht keinesfalls billigend in Kauf genommen werden! 

Literatur

  • 1 Amiel S A, Dixon T, Mann R et al. Hypoglycaemia in type 2 diabetes.  Diabet Med. 2008;  25 245-254
  • 2 Cryer P E. Hypoglycemia: still the limiting factor in the glycemic management of diabetes.  Endocr Pract. 2008;  14 750-756
  • 3 Amiel S A, Cryer P E. Attenuated sympathoadrenal responses, but not severe hypoglycemia, during aggressive glycemic therapy of early type 2 diabetes.  Diabetes. 2009;  58 515-517
  • 4 Fritsche A, Stefan N, Häring H et al. Avoidance of hypoglycemia restores hypoglycemia awareness by increasing beta-adrenergic sensitivity in type 1 diabetes.  Ann Intern Med. 2001;  134 729-736
  • 5 Turnbull F M, Abraira C, Anderson R J et al. Intensive glucose control and macrovascular outcomes in type 2 diabetes.  Diabetologia. 2009;  52 2288-2298
  • 6 Gerstein H C, Miller M E, Byington R P et al. Effects of intensive glucose lowering in type 2 diabetes.  N Engl J Med. 2008;  358 2545-2559
  • 7 Dluhy R G, McMahon G T. Intensive glycemic control in the ACCORD and ADVANCE trials.  N Engl J Med. 2008;  358 2630-2633
  • 8 Whitmer R A, Karter A J, Yaffe K et al. Hypoglycemic episodes and risk of dementia in older patients with type 2 diabetes mellitus.  Jama. 2009;  301 1565-1572
  • 9 Gallwitz B, Haring H U. Future perspectives for insulinotropic agents in the treatment of type 2 diabetes-DPP-4 inhibitors and sulphonylureas.  Diabetes Obes Metab. 2009;  ,  [Epub ahead of print]
  • 10 Gallwitz B. The value of incretin based therapies.  Dtsch Med Wochenschr. 2009;  134 1062-1066
  • 11 Mullins P, Sharplin P, Yki-Jarvinen H et al. Negative binomial meta-regression analysis of combined glycosylated hemoglobin and hypoglycemia outcomes across eleven Phase III and IV studies of insulin glargine compared with neutral protamine Hagedorn insulin in type 1 and type 2 diabetes mellitus.  Clin Ther. 2007;  29 1607-1619
  • 12 Tschritter O, Fritsche A, Gallwitz B et al. Langwirkende Insulinanaloga in der Therapie des Diabetes mellitus Typ 1 und Typ 2. Eine Zusammenfassung der klinischen Studien und Metaanalysen.  Diabetes und Stoffwechsel. 2005;  14 375-382
  • 13 The Diabetes Control and Complications Trial Research Group . The effect of intensive treatment of diabetes on the development and progression of long-term complications in insulin-dependent diabetes mellitus.  N Engl J Med. 1993;  329 977-986

Prof. Dr. med. Andreas Fritsche

Universität Tübingen · Medizinische Klinik IV

Otfried Müller Straße 10

72076 Tübingen

Email: andreas.fritsche@med.uni-tuebingen.de

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