Psychiatr Prax 2009; 36(2): 55-57
DOI: 10.1055/s-0028-1090203
Debatte: Pro & Kontra

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Theoriefreie Klassifikation psychischer Störungen

Atheoretical Classification of Psychiatric DisordersPro: Hans  Förstl Kontra: Paul  Hoff
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Publication Date:
04 March 2009 (online)

Pro

Für den Zweck dieser Diskussion ist hier die intellektuell radikale These zu vertreten, dass psychische Störungen ohne vorherige Festlegungen einzuteilen sind. Theoretische Grundannahmen sollten zuvor nicht getroffen werden.

Was kann man an der „Theorie” in der Psychiatrie aussetzen? Die Konnotation des „Theorie”-Begriffs legt eher akademische Auseinandersetzungen und philologische Erstarrung nahe, als ein neugieriges Schauen und dynamisches Entwickeln im eigentlichen Wortsinn. Diese Theorie scheint der Praxis geradezu entgegen gesetzt. Bei den rein menschengemachten Disziplinen wie Philologie und Juristerei mag man sich mit Theorien begnügen. Die „richtigen” Wissenschaften bohren sich in ein tieferes Verständnis der Natur und des Menschen hinein und lassen ihre Theorien ständig hinter sich. Jeder Arzt lernt mithilfe seiner Patienten ständig dazu und verändert seine Sichtweise, seine Theorie. Temporäre diagnostische Konstrukte, die eine tiefere Bedeutung bis hin zur Ätiologie suggerieren, nutzen allenfalls zur Tablettenwahl und zur Leistungsabrechnung [1].

Also dienen die Theorien recht profanen Zwecken, die ihren Schöpfern erheblich gegen den Strich gingen. Kraepelin, dem Agnaten der wissenschaftlichen Psychiatrie des 20. Jahrhunderts, ging es tatsächlich um besondere Werte. Sein Minderwertigkeitsempfinden gegenüber den anderen Fächern der Medizin, die bereits naturwissenschaftlich, also damals durch die Pathologie unterfüttert waren und die klare mechanistische Vorstellungen über Entstehung und Behandlung ihrer Krankheiten verkündeten, führte zu einer recht entschlossenen theoretischen Aufrüstung, nachzulesen in den vielen Auflagen seines Lehrbuchs. Instinktsicher setzte er auch auf die richtigen Forschungsgebiete, allerdings hinkten die empirischen Arbeiten dem theoretischen Entwurf hinterher.

Als Reaktion auf die romantische Antipsychiatrie der 60er- und 70er-Jahre fasste Klerman [2] das Programm des Kraepelinismus nochmals neu zusammen: Psychiatrie sei demnach ein medizinisches Fach; sie benutze moderne wissenschaftliche Methoden; zwischen gesund und psychisch krank gebe es eine klare Grenze; auch zwischen den einzelnen psychischen Krankheiten gebe es klare Grenzen; … Diagnostik und Klassifikation seien ein erklärtes Ziel psychiatrischer Forschung; sie sollten akademisch gelehrt und nicht ständig in Zweifel gezogen werden. Eine der Klassifikation dienende Theorie war also essenzieller Stützpfeiler einer wissenschaftlichen Psychiatrie nach Kraepelin.

Nun ist aber die Antipsychiatrie mausetot. Selten waren Medizinstudenten so positiv eingestellt, neugierig und gleichzeitig so pragmatisch wie heute. Dieser moderne Pragmatismus wäre auch den Fachvertretern zu empfehlen. Zu einer anwendungsbezogenen Auseinandersetzung mit dem Fach Psychiatrie gehört zugegebenermaßen auch das zügige Durchdeklinieren von Diagnosekriterien als Mittel zum Zweck. Die junge Generation der Kollegen blickt aber durch, sie durchschaut die Theorien bis auf ihren aktuellen natur- und sozialwissenschaftlichen Grund.

Geschichte und Gegenwart der Psychiatrie belegen vielfach, dass es unzeitgemäß und ganz ungeschickt wäre, theoretische Ansichten noch in Marmor zu meisseln. Im Folgenden sollen einige warnende Beispiele die Vergänglichkeit, Unvollständigkeit, Sinnleere oder Beeinflussbarkeit psychiatrischer Theoriebildung illustrieren.

Zu den historischen Exempeln zählt das Arbeitsprogramm, dass sich Karl Philipp Moritz im 18. Jahrhundert gab: In der ersten psychologisch-nervenärztlichen Zeitschrift „Gnothi Sauton” wollte er erst ein paar Jahre lang Material sammeln (Fallgeschichten, Selbstbeschreibungen, theoretische Vorüberlegungen etc.), um dann eine schlüssige Theorie des Geistes und seiner Störungen zu formulieren. Das liegt über 200 Jahre zurück, und Moritz hat es nicht geschafft [3].

Die sinnleere Verselbstständigung biomathematischer Methoden ist ein Beispiel, das weniger weit zurückliegt. Mit dem Einzug von Computern und Statistikpaketen erblühten Ende des 20. Jahrhunderts in Cluster und Faktoren aufgefaltete Syndrome, die dem unbewaffneten Auge des Klinikers sonst verborgen geblieben wären und vielfach frei von klinischer Bedeutung blieben [4]. Viele von uns psychiatrischen Forschern sind ihrem Reiz dennoch zeitweise erlegen.

Mit dem aktuellen Paradigmenwechsel hin zur Welt der Molekulargenetik, etwa mit der Definition von „Endophänotypen”, werden frühere Theoriebildungen von Grund auf infrage gestellt. Beim Versuch, die langen und verschlungenen Wege von den Genen über die Genprodukte und deren potenzielle Interaktionen unter Umwelteinflüssen bis hin zum Verhalten und Erleben der „Träger” nachzuzeichnen, lösen sich die konventionellen Krankheitsbegriffe auf [5].

Dass psychiatrische Theorien nicht nur wissenschaftlich erarbeitet und begründet sind, sondern auch erheblich von gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen beeinflusst werden, soll nicht verschwiegen werden. Theorien implizieren zum Beispiel Therapieoptionen und damit Umsatzchancen. Hier zu das Beispiel der affektiven Störungen: Das Kommen und Gehen von Krankheitskonzepten wurde und wird nicht nur von Philosophie und Zeitgeist („Melancholie”), neuen Beobachtungen (z. B. von Falret und Baillarger ab 1830 zu den zyklisch verlaufenden affektiven Erkrankungen), klaren theoretischen Setzungen wie Kraepelins Dichotomie [6], sondern auch durch die Industrie und ihre Produkte beeinflusst (bipolar boom).

Das warnende Beispiel der klassischen Psychoanalyse, bei der kühne Theorie den Mangel an Substanz dauerhaft überschattet, lasse ich an dieser Stelle ganz unerwähnt.

Literatur

  • 1 Cooper R. Psychiatry and Philosophy of Science. Stocksfield; Acumen Publ 2007
  • 2 Klerman G L. The evolution of a scientific nosology. In: Schizophrenia. Science and Practice 1978
  • 3 Förstl H, Angermeyer M, Howard R. Karl Philipp Moritz' Journal of Empirical Psychology (1783–1793): an analysis of 124 case reports.  Psychol Med. 1991;  21 299-304
  • 4 Kendler K S, Karkowski L M, Walsh D. The structure of psychosis – latent class analysis of probands from the Roscommmon family study.  Arch Gen Psychiat. 1998;  55 492-99
  • 5 Braff D L, Freedman R, Schork N J. et al . Deconstructing schizophrenia: an overview of the use of endophenotypes in order to understand a complex disorder.  Schizophrenia Bull. 2007;  33 21-32
  • 6 Angst J, Marneros A. Bipolarity from ancient to modern times: conception, birth and rebirth.  J Affect Dis. 2001;  67 3-19
  • 7 Fulford K WM, Thornton T, Graham G. Values, Ethics, and Mental Health. In: Part IV of Fulford KWM, Thornton T, Graham G eds The Oxford Textbook of Philosophy and Psychiatry. Oxford; Oxford University Press 2006
  • 8 Janzarik W. Die Krise der Psychopathologie.  Nervenarzt. 1976;  47 73-80
  • 9 Janzarik W. Psychopathologie als Grundlagenwissenschaft. Stuttgart; Enke 1979
  • 10 Hoff P. Über die zukünftige Rolle der Psychopathologie: Grundlagen- oder Hilfswissenschaft?. In: Fuchs T, Vogeley K, Heinze M, Hrsg Subjektivität und Gehirn. Lengerich; Pabst Science Publishers 2007: 195-209
  • 11 Hoff P. Erkenntnistheoretische Vorurteile in der Psychiatrie – eine kritische Reflexion 75 Jahre nach Karl Jaspers' „Allgemeiner Psychopathologie”.  Fundamenta Psychiatrica. 1989;  3 141-150
  • 12 Jaspers K. Allgemeine Psychopathologie. Berlin: Springer, 1913 (zitiert ist die 4., völlig neu bearbeitete Aufl. Heidelberg; Springer 1946
  • 13 Bogerts B, Lieberman J. Neuropathology in the study of psychiatric disease. In: Costa e Silva ACJ, Nadleson CC, eds International review of psychiatry. Washington DC; American Psychiatric Press 1993
  • 14 Möller H J, Kasper S. Die Rolle der Kognition in der Therapie schizophrener Störungen. Wiesbaden; Deutscher Universitätsverlag 2000
  • 15 Gallagher S, Zahavi D. The Phenomenological Mind. An Introduction to Philosophy of Mind and Cognitive Science. London; Routledge 2008
  • 16 Kendler K, Parnas J eds. Philosophical Issues in Psychiatry: Explanation, Phenomenology, and Nosology. Baltimore; Johns Hopkins University Press 2008
  • 17 Thompson E. Mind in Life. Biology, Phenomenology, and the Sciences of Mind. Cambridge; The Belknap Press of Harvard University Press 2007

Prof, Dr. med. Hans Förstl

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, TU München

Ismaningerstraße 22

81675 München

Email: hans.foerstl@lrz.tu-muenchen.de

Prof. Dr. med. Dr. phil. Paul Hoff

Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Klinik für Soziale Psychiatrie und Allgemeinpsychiatrie ZH West

Lenggstraße 31

Postfach 1931

8032 Zürich, Schweiz

Email: paul.hoff@puk.zh.ch