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DOI: 10.1055/s-0030-1253236
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Stellungnahme zum Leserbrief von Hans Assmus
Publication History
Publication Date:
12 April 2010 (online)
In einem Leserbrief vertritt der Autor die Meinung, dass die (operative) Neurolyse einen überflüssigen, potentiell schädlichen Eingriff darstelle und keine eigenständige therapeutische Leistung verkörpere [1]. Es werden auch sprachliche Argumente vorgebracht, nämlich, dass Neurolyse Lösung, Auflösung bzw. Zerstörung von Nervengewebe bedeute. Der Begriff Neurolyse könne leicht und schlüssig durch andere Termini technici ersetzt werden. Diese Meinungen gehen an der Wirklichkeit vorbei, wie im Folgenden ausgeführt werden soll.
Das griechische Wort „Lyse” bedeutet Lösung, Auflösung und Beendigung. Es wird in der Wissenschaft als Bestandteil zusammengesetzter Wörter verwendet, die eine Auflösung oder Abspaltung implizieren wie Analyse (Untersuchung eines Objektes durch Zergliederung in seine Bestandteile), Hydrolyse (Spaltung einer chemischen Verbindung durch Reaktion mit Wasser). In keinem Fall ist aber eine Zerstörung der Bestandteile gemeint.
Im Sinne der Lösung von Verwachsungen bzw. Verklebungen wurde der Begriff Lyse vor langer Zeit in die Chirurgie eingeführt. Dies führte zur Bildung der Begriffe Tenolyse, Arthrolyse, Adhäsiolyse aber auch Neurolyse.
Die Tatsache, dass periphere Nerven sich passiv bewegen können müssen, um sich den Bewegungen der Extremitäten anpassen zu können, ist vielfach dokumentiert. Ich bin gerne bereit Herrn Kollegen Assmus intraoperative Filme zu zeigen, die demonstrieren, wie Strukturen des Plexus brachialis sich bewegen, wenn das Ellbogengelenk gebeugt und gestreckt wird. Die Lösung von Verwachsungen zur Wiederherstellung der notwendigen passiven Beweglichkeit ist also ein wichtiges therapeutischen Anliegen. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle genügt die (äußere) Neurolyse, weil das Gleitgewebe eine sehr gute Regenerationstendenz besitzt. Nur ausnahmsweise ist die Einhüllung in einen Gleitgewebslappen notwendig. Die Wirksamkeit des Gleitgewebslappens ergibt sich daraus, dass dadurch ein Dauerergebnis erzielt werden kann, nachdem vorher einfache Neurolysen gescheitert waren. Auch hierzu gibt es gut dokumentierte Fallpublikationen.
Der Autor des Leserbriefes will den Begriff Neurolyse durch den Terminus „diagnostische oder Probefreilegung eines Nervs oder Faszikels” ersetzen. Es unterläuft ihm dabei ein Denkfehler. Der Begriff Freilegung impliziert einen normalen Nerv, während Neurolyse nur dann sinnvoll erscheint, wenn sich in der Umgebung des Nervs pathologische Prozesse abgespielt haben und Adhäsionen entstanden sind. Der Begriff Freilegung deckt auch nicht die häufige Situation ab, wenn Narben, Knochensplitter oder Fremdkörper bzw. andere Strukturen den Nerv komprimieren oder dislozieren. Der Wert der (äußeren) Neurolyse ist durch vielfältige Erfahrungen erwiesen und kann entsprechend dem Gesagten aus der chirurgischen Terminologie nicht gestrichen werden, ebenso wenig wie Tenolyse oder Arthrolyse.
Etwas komplizierter ist die Situation bei der inneren Neurolyse oder Endoneurolyse. Bereits in den Fünfziger-Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde vorgeschlagen [2], bei fibrösen Veränderungen im Nerv das Epineurium zu spalten und das fibröse Gewebe zu entfernen. Ohne optische Vergrößerung und entsprechen-des Instrumentarium war jedoch das chirurgische Trauma zu groß und die Erfolge waren bescheiden. Nach Einführung der mikrochirurgischen Technik wurden diese Bestrebungen wieder aufgenommen, ja man schoss über das Ziel hinaus und separierte die einzelnen Faszikel vollständig. Curtis und Eversman [3] empfahlen beim Karpaltunnelsyndrom eine solche Neurolyse routinemäßig ab einem gewissen Schweregrad durchzuführen. Man ging davon aus, dass die häufig zu beobachtende sanduhrförmige Verformung des N. medianus sich nicht von selbst lösen kann. Dies trifft aber nur bei Vorliegen einer fortgeschrittenen Fibrose zu. Ohne Fibrose kann sich der Nerv sehr wohl nach der äußeren Neurolyse ausdehnen und es bedarf keiner Epineuriotomie. Wenn keine Fibrose vorliegt, muss man sogar damit rechnen, dass eine Manipulation im Nerv eine Fibrose induziert, wie Lundborg gezeigt hat [4] (Rydevik, Lundborg und Nordborg 1976).
Ein Patient hingegen mit einer intraneuralen Fibrose hat ja schon eine Fibrose, die Beschwerden verursacht. Der Operation liegt die Überlegung zugrunde, dass der allfällige Schaden durch die Operation weniger schwer ins Gewicht fällt als der bestehende, so wie man bei der Korrektur einer Narbenkontraktur davon ausgeht, dass die neue Narbe funktionell und kosmetisch ein besseres Resultat ergibt als die ursprüngliche. Daher sind globale randomisierte Studien in diesem Zusammenhang wertlos. Man dürfte nur Fälle mit gleich stark ausgeprägter Fibrose vergleichen, wenn man den Wert einer Epineuriotomie untersuchen will.
Nebenbei sei bemerkt, dass das Wort Epineurotomie, das der Autor mehrfach verwendet, nur ein Einschneiden auf den Nerv und nicht eine Durchtrennung des Epineuriums bedeutet. Diese Maßnahme heißt nach allgemeiner Übereinkunft Epineuriotomie.
Wenn es darum geht durch Fibrose im Bereich des Nervs komprimierte Faszikel zu entlasten, muss man schrittweise vorgehen. Zuerst wird das fibrös veränderte Gleitgewebe (Conjunctiva nervorum nach Johannes Lang [5], Paraneurium nach Krstic [6]), wenn es noch nicht mit dem Epineurium fusioniert ist, durchtrennt oder entfernt. Es erfolgt also zuerst eine Epineuriotomie bzw. eine epifaszikuläre Epineuriektomie und schließlich eine partielle interfaszikuläre Epineuriektomie bei sehr weit fortgeschrittenen Fällen. Bei kompletter Fibrose kann man mit keiner Regeneration rechnen. Der betroffene Abschnitt wird reseziert und der Defekt durch Nerventransplantate überbrückt. Die Neurolyse im Nerv ist ein schrittweiser Vorgang, der durch das Ausmaß der Veränderungen bestimmt wird.
Dies ist der Grund, warum ich in der zitierten Arbeit [7] auf die Gefahren der kritiklosen Anwendung hingewiesen habe und gefordert habe, dass die Einzelschritte genau beschrieben werden müssen. Unter diesen Umständen könnte der Begriff der Endoneurolyse durch die Bezeichnungen der Einzelschritte ersetzt werden. Dass die Neurolyse auch im Nerv unter den genannten Bedingungen hervorragende Ergebnisse liefert, kann ich jederzeit durch wohl dokumentierte Fälle beweisen. Selbstverständlich ist zu unterstreichen, dass solche Eingriffe nur von Chirurgen durchgeführt werden sollen, die das nötige Geschick und ausreichende Erfahrung besitzen. Bewährte Methoden abzulehnen bloß, weil man vielleicht selbst schlechte Erfahrungen gemacht oder davon gehört bzw. gelesen hat, ist zwar einfach aber nicht im Interesse dieser, meist schwer leidenden Patienten.
Noch ein Wort zur „Neurolyse” im Rahmen der Schmerzbehandlung: „Neurolytische” Nervenblockaden mit Alkohol, Phenol usw. sind keine Neurolysen. Es kommt dabei zu einer Eiweißdenaturierung und damit zu einer Gewebszerstörung mit nachfolgender Fibrose.
Literatur
- 1 H. Assmus. warum der Begriff „Neurolyse” in der Nervenchirurgie entbehrlich ist. Hand Chir Mikrochir Plast Chir. 2010 , …
-
2 Pecinka H.. Mitteilung am 2.Kongress der Österr. Ges. für Chirurgie und Unfallheilkunde 1960 in Wien.
- 3 Curtis RM, Eversmann Jr WW. Internal neurolysis as an adjunct to the treatment of the carpal-tunnel syndrome. J Joint Bone Surg. [Am] 1973 55: 733-740
- 4 Rydevik B, Lundborg G, Nordborg C. Intraneural tissue reaction induced by internal neurolysis. Scand J Plast Reconstr Surgery. 1976 10: 3-8
- 5 Lang J.. Über das Bindegewebe und die Gefäße der Nerven. Anatomie und Embryologie. 1962 123: 61-79
- 6 Krstic RV. Über die Gewebe des Menschen und der Säugetiere. Springer Verlag; 1978
- 7 Mazal PR, Millesi H. Neurolysis: is it beneficial or harmful? Acta Neurochir Suppl. 2005 92: 3-6
Abschließende Stellungnahme
Prof. Millesi beschreibt mit Neurolyse bei einengenden Prozessen z. B. durch Narben, Knochensplitter usw. ein Vorgehen, das man auch bei entsprechenden (diagnostischen) Voraussetzungen durch Dekompression – wie von mir vorgeschlagen – ersetzen kann. Ob allerdings ein pathologischer Prozess in der Nähe des Nervs oder eine Adhäsion ohne morphologisch durch MRT oder Sonographie nachgewiesene bzw. neurographisch messbare Kompression des Nervs eine therapeutische „Neurolyse“ erforderte oder ob es sich hierbei lediglich um eine Probefreilegung mit allfälliger Spontanregeneration gehandelt hat, ist häufig nur sehr schwer zu beweisen. Es ist jedenfalls zu hoffen, dass der unkritische Satz „Wir machten eine Neurolyse“ zukünftig bei wissenschaftlichen Publikationen nicht mehr verwendet und durch begründete und entsprechend beschriebene Einzelschritte wie Epineuriotomie usw. ersetzt wird. Eingriffe in die Nervenstruktur wie die „interfaszikuläre Neurolyse“ oder „Endoneurolyse“ sollten – wie Prof. Millesi betont – auf das unbedingt nötige Ausmaß begrenzt und nur von erfahrenen Nervenchirurgen vorgenommen werden.
H. Assmus
Korrespondenzadresse
Prof. Dr. Hanno Millesi
Millesi Center
Pelikangasse 15
1090 Wien
Österreich