Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2010; 45(10): 648-655
DOI: 10.1055/s-0030-1267531
Fachwissen
AINS-Topthema: Berufliche Belastungen in der Anästhesiologie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Berufliche Belastungen in der Anästhesiologie – Abhängigkeitssyndrome bei Anästhesisten

Addicted AnaesthetistsChristoph Maier, Judith Iwunna, Jens Soukup, Norbert Scherbaum
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Publication Date:
19 October 2010 (online)

Zusammenfassung

Suchterkrankungen, speziell der schädliche Gebrauch von in der Anästhesie und Schmerztherapie verbreiteten Substanzen (Opioide, Benzodiazepine, Anästhetika), werden bei Anästhesisten häufiger als bei anderen Ärzten beobachtet. Opioide werden am häufigsten missbräuchlich genutzt, gefolgt von Benzodiazepinen, illegalen Drogen, Propofol und Ketamin. Jüngste Umfragen in Deutschland zeigen, dass 16% der Betroffenen an ihrer Suchterkrankung versterben, 80% nehmen ihre Arbeit nicht wieder auf, bei Propofolabhängigkeit beträgt die Mortalität sogar 37%: Entscheidend für das erhöhte Risiko der Anästhesisten ist die Griffnähe, zumal einige der Substanzen trotz bekanntem Abhängigkeitspotenzial, wie Propofol und Ketamin, in Deutschland keiner Abgabekontrolle unterliegen. Für die Entwicklung eines Abhängigkeitssyndroms sind neben dem Abhängigkeitspotenzial der Substanzen biografische und genetische Aspekte, die Komorbidität sowie soziale Faktoren bedeutsam. Auch nach Abstinenz ist die Rückfallgefahr durch die im Krankenhaus allgegenwärtigen, für Suchtkranke bedeutsamen Reize (Cues) erhöht. Amerikanische Studien mit strukturierten Therapie-, Rehabilitations- und anschließenden Überwachungsprogrammen belegen die im Vergleich zu Deutschland relativ gute Prognose für Anästhesisten im Falle einer erfolgreichen Therapie. Daher bedarf es jetzt auch in Deutschland eines veränderten Umgangs mit dem Problem der Suchterkrankung im Kollegenkreis sowie der Schaffung vergleichbarer Therapie- und Rehabilitationsangebote wie in den USA.

Abstract

Drug dependence of anaesthetists occurs more often than in other physicians, especially the noxious usage of common substances in anaesthesiology and pain management like opioids and anaesthetics. Opioids are the most frequent abusively taken medication followed by benzodiazepines, illegal drugs, Propofol and Ketamine. Determining for the behavioral pattern is the easy access to the drugs. Especially as some of the addictive-drugs (e. g. Propofol, Ketamine) are not underlying any release-control. Recent German surveys confirm the American figures. For the development of drug dependence many factors like biographic, social and genetic aspects as well as the substances and their potential itself are significant. Furthermore, the presence of many stimuli encourages the relapse-risk for addicted people despite earlier abstinence. At least 16% of all cases and 37% of the Propofol-addiction cases proceed deadly.

American studies with structured therapy-, rehabilitation- and follow-up surveillance-programs show a positive prognosis for anaesthetists. In Germany it requires rethinking and the establishment of comparable therapy-offers and facilities.

Kernaussagen

  • Bei der Entstehung einer Substanzabhängigkeit wirken 3 Hauptfaktoren zusammen: Persönlichkeit des Erkrankten, soziale Faktoren sowie pharmakologische Eigenschaften der Substanzen.

  • Je stärker die Disposition, desto höher die Vulnerabilität (z. B. durch frühere oder aktuelle psychische Erkrankungen oder traumatisierende Erfahrungen). Je permissiver die Umgebung gegenüber dem Suchtmittelkonsum, desto rascher führt eine bestimmte Substanz zur Abhängigkeit.

  • Das Endorphin- und Cannabinoidsystem sind Teil des physiologischen Belohnungssystems. Opioide haben in diesem System multiple Angriffspunkte und weisen ein besonders hohes Suchtpotenzial auf.

  • Der Suchtmittelkonsum eines Abhängigen führt nicht mehr zur vermehrten Freisetzung von Dopamin, sondern lediglich zu einer Normalisierung im Reward-System. Der Suchtkranke erlebt später weder Bewusstseinserweiterung noch Euphorie.

  • Unter Craving versteht man das ständige und unabweisbare Verlangen nach dem Konsum bzw. der Wirkung des Suchtmittels. Craving wird auch durch primär neutrale, aber im Verlauf mit dem Suchtmittelkonsum assoziierte Reize ausgelöst. Auch diese Hinweisreize führen dann zur Dopaminausschüttung. Ehemals abhängige Ärzte und Pflegende sind an ihrem Arbeitsplatz ständig diesen Hinweisen ausgesetzt. Diese Konditionierung erklärt unter anderem die hohe Rückfallquote von Suchtkranken nach erreichter Abstinenz.

  • Besonders Anästhesisten und Intensivmediziner haben oftmals einen nicht kontrollierten beruflichen Zugang zu Substanzen mit teilweise hohem Abhängigkeitspotenzial. Aus Griffnähe und einfacher Möglichkeit der Selbstverschreibung entwickelt sich dann das Abhängigkeitssyndrom.

  • Eine effektive Abgabeüberwachung z. B. von Propofol führt zu einem Rückgang der Missbrauchsfälle.

  • Schätzungen besagen, dass vermutlich 1–2 % aller Anästhesisten eine problematische Medikamenteneinnahme aufweisen oder Drogen nehmen.

  • Primär bevorzugen Abhängige keine bestimmte Substanz, sondern sie werden in der Abhängigkeitsentwicklung von der spezifischen Verfügbarkeit der Suchtmittel beeinflusst.

  • Es verstreichen im Mittel bis zu 8 Jahren, bis eine Therapie bei suchtkranken Ärzten beginnt. Je länger die Diagnose nicht gestellt wird, desto schlechter ist die Prognose. Unbehandelt versterben zwischen 30–40 % der Betroffenen bei Propofolabhängigkeit.

Weiteres Material zum Artikel

Literatur

Prof. Dr. med. Christoph Maier
Dipl. Päd. Judith Iwunna
Dr. med. Jens Soukup
Prof. Dr. med. Norbert Scherbaum

Email: christoph.maier@rub.de

Email: jens.soukup@medizin.uni-halle.de

Email: norbert.scherbaum@lvr.de