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DOI: 10.1055/s-0032-1304920
Schizophrenie als Leitkrankheit der Psychiatrie
Schizophrenia as the Prototypical Psychiatric DisorderPublication History
Publication Date:
04 May 2012 (online)
Pro
Von Leitkrankheiten in der Medizin erwartet man, dass sie Positionierung und ggf. Umorientierung eines Faches bestimmen. Wohl kaum eine Erkrankung aus dem Spektrum psychischer Erkrankungen hat die Psychiatrie und Psychotherapie nach innen und nach außen in dermaßen starker Weise geprägt wie die Schizophrenie.
Andererseits wurde für die Behandlung schizophrener Erkrankungen viel aus der Versorgung anderer Störungen gelernt. Die für diesen Beitrag aufgetragene Zuspitzung auf eine pointierte, dichotom vereinfachende Position zwingt jedoch dazu, sich auf einige richtungsweisende Aspekte der Auseinandersetzung unseres Faches mit schizophrenen Störungen in Forschung und Praxis zu beschränken, um sie als Leiterkrankung – im schon Errungenen, aber auch im dringend Nachzuholenden – zu „verteidigen“. Welche Errungenschaften im Verstehen und Behandeln schizophrener Störungen können als Orientierungslinie unseres gesamten Faches gelten?
Argument 1: Die biopsychosoziale Ursachen- und Interventionsforschung zu schizophrenen Störungen spielte eine Vorreiterrolle bei der Überwindung des Leib-Seele-Dualismus in unserem Fach.
Das „biopsychosoziale“ Modell und das „Vulnerabilitäts-Stress-Kompetenz-Modell“ [1] bringen als ätiologische Konzepte für unser Fach auf beispielhafte Weise die Vielfalt der Erkenntnisse moderner molekularbiologischer, genetischer, Bildgebungs-, epidemiologischer und psychologischer Befunde zugunsten eines multidimensionalen Ursachenmodells zusammen. Dabei wird die dopaminerge Dysregulation verstanden als „final common pathway“ multipler genetischer, intrauteriner und umgebungsbezogener „Noxen“. Dekompensation wird als schrittweiser Prozess betrachtet und als Folge eines Ungleichgewichts protektiver und belastender Faktoren. Nicht nur für die Ätiologie, sondern auch für Verlauf, Prognose und Therapie sind multidimensionale Konzepte bei schizophrenen Störungen breit akzeptiert. Neben der Pharmakotherapie erwiesen sich bspw. auch multiple psychologische Faktoren (Zielorientierung, Erfolgszuversicht, Beibehalt von Substanzabstinenz usw.) als entscheidend [2], die sich verhaltenstherapeutisch fokussieren lassen [3] [4].
Bis weit in die 90er-Jahre hinein war die Dichotomie „endogener“ versus „neurotischer“ Störungen Grundlage differenzialtherapeutischer Entscheidungen unseres Fachs. Psychotherapie war zuvor ausschließlich für „neurotische“ oder „reaktive“ Störungen indiziert, die dann selbst bei schweren Syndromen keine Psychopharmakotherapie erhielten. Psychotherapie bei „endogenen Störungen“ – zuvorderst bei der Schizophrenie – wurde als symptomverschlimmernd und rückfallfördernd befürchtet und daher großteils als kontraindiziert betrachtet. „Endogene Störungen“ waren meist die Domäne ausschließlicher Psychopharmakologie. Erst der Nachweis neurobiologischer Veränderungen durch Psychotherapie – auch bei „endogenen Störungen“ [5] [6] – sowie die Entwicklung und Wirksamkeitsbelege über rein edukatives Arbeiten hinausgehender, störungsspezifischer, zumeist verhaltenstherapeutischer, Verfahren [7] brachte die Wende.
Argument 2: Die Überwindung des Mythos vom qualitativ andersartigen psychotischen Erleben war eine der Voraussetzungen für das Nutzbarmachen wirksamer psychologischer Konzepte zu Verständnis und Behandlung schizophrener Symptomatik.
Das scheinbar qualitativ andersartige psychotische Erleben im Vergleich zu normalpsychologischen Prozessen sozialer Wahrnehmung und die hieraus resultierende scheinbare Unbegreiflichkeit haben von außen Stigmatisierung (das Anderssein, das Ver-Rückte, das fremd und bedrohlich ist), aber auch nach innen das Herantragen normalpsychologischer Erkenntnisse an Verständnis und Psychotherapie über Jahrzehnte verhindert [8] [9]. So war die Pionierarbeit über kognitions- und sozialpsychologische Prozesse bei wahnhafter Symptomatik von Aaron Beck bereits nahezu 4 Jahrzehnte bekannt , bevor kognitions- und sozialpsychologische Grundlagenforschung in die Entwicklung evidenzbasierter kognitiv-behavioraler Interventionen mündete [10] [11].
Argument 3: Die Überwindung des Mythos vom qualitativ Andersartigen war Einstieg in erste Schritte zur Überwindung von Stigmatisierung [12] und Selbststigmatisierung [13] und trug damit zur Überwindung der Gefährdung nachhaltiger Therapiebindung bei.
Die Sorge von Menschen mit schizophrenen Störungen vor sozialem Ausschluss z. B. am Arbeitsplatz, im Freundes- und Bekanntenkreis, ist nicht nur bei psychopathologisch weitgehend stabilen Patienten hoch [14], sondern trägt zum Mangel an Inanspruchnahme von fachpsychiatrisch-psychotherapeutischer Hilfe bei. Wer sich schämt, an einer schizophrenen Störung zu leiden, nimmt weniger professionelle Hilfe in Anspruch und steigt seltener in berufliche und soziale Integrationsmaßnahmen ein [14] [15] [16]. Aus solchen Überlegungen wurden neue edukative Ansätze entwickelt , die mit „normalizing“ (z. B. interaktive Erarbeitung eines gemeinsamen Arbeitsmodells zu Therapieplanung unter Rückgriff auf Beschreibung psychotischen Erlebens als Extremvariante normalpsychologischen Funktionierens) und stärkerer Partizipation des Patienten [17] [18] an nachhaltiger Behandlungsbereitschaft durch motivationspsychologische Ansätze (z. B. des „shared decision making“) ansetzen. Dieses Vorgehen ist beispielgebend für andere psychische Störungen.
Argument 4: Multiprofessionelle ambulante Behandlung mit Case Management bei schizophrenen Störungen übernahm eine Vorreiterrolle, indem sie bei Schizophrenie lange vor anderen Störungsbereichen in den Vordergrund rückte [19] .
Die Notwendigkeit ambulanter multiprofessioneller Versorgungsteams in der gemeindenahen integrierten Versorgung wurde bei schizophrenen Störungen erkannt [20] und zum Vorbild für die Versorgung schwerer anderer psychischer Erkrankungen. Dieser Ansatz orientiert sich flexibel am individuellen Hilfebedarf. Medizinische Modelle rein symptomorientierter Versorgung werden aus intrapersonellem Störungsblickwinkel gestörter Neurobiologie in Richtung des Verständnisses von „Krankheit“ als entwicklungspsychologisch relevantem „critical life event“ ausdifferenziert. Psychotherapeutisch wird die Arbeit am beschädigten Selbstkonzept erforderlich. „Krankheit“ wird als interpersonelles Geschehen in neuen Behandlungs- und Versorgungsmodellen aufgegriffen [3].
Argument 4: Das Primat „ambulant vor stationär“ und die Förderung gemeindenaher integrativer Versorgung ist nicht zuletzt am Beispiel schizophrener Störungen deutlich geworden.
Die Behandlung schizophrener Patienten in ihrer sozialen und beruflichen Alltagssituation eröffnet einen repräsentativen Zugriff auf symptomatische, nebenwirkungsbezogene und funktionale therapeutische Zielbereiche [21]. Hier werden folgende Ziele erreicht: Durch den Verbleib im Alltag und die Verhinderung einer Abkopplung von Behandlung und Alltag reduziert sich die (Selbst-)Stigmatisierung des Patienten. Im „Kontakt“ mit dem Alltag kann eine repräsentativere Sammlung von Problembereichen des Patienten stattfinden, sodass der Therapiefokus korrekter gesetzt und der Transfer des in Therapie und Rehabilitation Gelernten in den Alltag wesentlich verbessert wird [22].
Argument 5: Leitkrankheit unseres Fachs sind schizophrene Störungen auch insofern, als einerseits weiterentwickelte moderne Ansätze große Chancen für Einsparungen eröffnen (v. a. im stationären Bereich; [23] ), andererseits evidenzbasierte aktuelle Versorgungskonzepte im ambulanten Bereich besonders vulnerabel für unangemessene gesundheitsökonomische Einsparungen sind.
Stationäre Aufenthalte werden unter ökonomischem Druck immer kürzer. So werden Menschen mit schizophrenen Störungen symptomatisch weniger stabilisiert und auch seltener mit geklärter sozialer oder beruflicher Integrationsperspektive entlassen. Die Anforderungen an ambulante „Nachsorgesysteme“ nehmen zu. Dies gilt für Institutsambulanzen, mobile Equipen und Niedergelassene gleichermaßen. Aber eingesparte stationäre Budgets werden fast nie in das ambulante Versorgungssystem reinvestiert, da nur selten ein einheitlich verwalteter Finanztopf besteht. Andererseits bedrohen gesundheitsökonomischer Druck und insbesondere falsche gesundheitspolitische Anreize gerade hier auch die Implementierung von „Goldstandards“ zeitgemäßer evidenzbasierter Behandlung: So sind betriebswirtschaftliche Leitungen von Kliniken nahezu stolz, wenn sich höherer betriebswirtschaftlicher Erfolg erzielen lässt durch Absenkung der Personaldecke unter die Vorgaben der Psychiatrie-Personalverordnungen, durch geringere Löhne des Personals, durch höhere „case loads“ in Institutsambulanzen von 150 Patienten je Mitarbeiter (anstelle des international üblichen „case loads“ von 40 bei „supportivem“ und 25 bei „störungsspezifischem verhaltenstherapeutischem Angebot“) oder durch den vorrangigen Einsatz von Antipsychotika der ersten Generation im Bereich der Akutversorgung. Der Preis hierfür ist längerfristig hoch. Ungünstige, weil nebenwirkungsreichere Krisenmedikation führt zu negativen Behandlungserfahrungen, die später die rechtzeitige Inanspruchnahme von Hilfe in Krisen oder sogar den nachhaltigen Aufbau poststationärer Compliance insgesamt gefährdet. Hieraus erklärt sich auch (neben den Ausbildungsmängeln), warum weniger als 5 % aller Patienten mit schizophrenen Störungen überhaupt störungsspezifische Psychotherapie erhalten [24], während europäische Angehörigenverbände wie EUFAMI in ihrer Osloer Deklaration im Jahr 2000 oder in der Basler Deklaration im Jahr 2011 (www.eufami.org) schon lange die breite Implementierung evidenzbasierter Behandlung und Versorgung auf der Basis moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse für ihre erkrankten Familienmitglieder fordern.
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