Suchttherapie 2012; 13(04): 153-154
DOI: 10.1055/s-0032-1329960
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Soziale Arbeit in der Suchthilfe – verkannt, unbekannt, unverzichtbar oder was?

Social Work in the Field of Addiction Care – Underestimated, Unknown, Indispensible, or what?
M. Klein
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Publication Date:
05 November 2012 (online)

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Prof. Dr. Michael Klein

Dass Sozialarbeiter[1] und Sozialpädagogen in den verschiedenen Feldern der Suchthilfe von den niedrigschwelligen Hilfen bis hin zur stationären Rehabilitation tätig sind, hat in Deutschland eine lange Tradition und ist ein nicht mehr wegzudenkender Teil unseres modernen Suchthilfesystems. Von den Anfängen der Suchthilfe in der Mitte des 19. Jahrhunderts, über die Wirren und Tiefpunkte des 20. Jahrhunderts, ab dem Neuanfang in den sechziger Jahren und bis heute, immer waren Sozialarbeiter in verschiedenen Feldern und Funktionen an der professionellen Suchthilfe beteiligt. Doch wie ist die zahlenmäßig starke Rolle dieser Berufsgruppe zu erklären und zu rechtfertigen? Manche Trägervertreter, oft selbst Mitglieder der Berufsgruppe Soziale Arbeit, halten es für unverzichtbar, dass Sozialarbeiter und Sozialpädagogen in unserem Feld tätig sind, andere schätzen die Vertreter der Berufsgruppe eher als „kostengünstigere Entlohnungsgruppe“, etwa im Vergleich mit Ärzten und Psychologen, äußern aber hinter vorgehaltener Hand Zweifel an der Qualität des Studiums der Sozialen Arbeit und insbesondere der akademischen Qualifikation der Absolventen. Sicherlich nicht ohne Zweifel an der Basisqualifikation der Studienabsolventen hat die Deutsche Rentenversicherung Bund (damals noch BfA) bereits im Jahre 1978 und erneut 1992 Kriterien zur suchttherapeutischen Weiterbildung erlassen, die sich hauptsächlich an die Vertreter des Berufsfeldes Soziale Arbeit richten und immer noch unter dem Kürzel VDR-Richtlinien bekannt sind. Inzwischen ist jedoch bekannt und auch gut dokumentiert, dass die Wissens- und Qualifikationslücken auch bei den Absolventen der Studiengänge Medizin und Psychologie in Bezug auf Suchtstörungen, deren Entstehung, Behandlung und Prävention, immens sind. Es ist also eher ein deutsches Phänomen, dass akademische Curricula für das Thema „Sucht“, ihre Erforschung, Prävention und Behandlung, bis auf ganz wenige Ausnahmen blind und ignorant sind, ganz im Unterschied zu den USA und den skandinavischen Ländern. Grund genug also, dass sich die Zeitschrift Suchttherapie mit dem Themen- und Berufsfeld der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe beschäftigt. Schätzungsweise mehr als 15 000 Sozialarbeiter und Sozialpädagogen sind immerhin hauptamtlich in diesem Feld beschäftigt. Sie leisten insbesondere im ambulanten Bereich zentrale und wichtige Tätigkeiten.

Eine genauere Betrachtung des akademischen „Unterbaus“ der heutigen Sozialarbeiter und Sozialpädagogen zeigt nicht nur, dass das Themenfeld Sucht in den meisten Bachelor-Studiengängen der Sozialen Arbeit deutlich vernachlässigt wird, sondern auch dass ein gänzlich anderes Wissenschaftsmodell vorherrscht als etwa in der Medizin und Psychologie. An den meisten deutschen Fachhochschulen mit Studiengängen der Sozialen Arbeit wird Forschung, wenn sie überhaupt betrieben wird, nicht in dem quantitativ-empirischen Sinne verstanden, wie er für die meisten Humanwissenschaften, insbesondere in den Bereichen Medizin und Psychologie, heute charakteristisch ist. Vielmehr herrscht oft ein ausschließliches Interesse an qualitativen Forschungsmethoden vor, bisweilen wird jedoch auch nur ein hermeneutisches Wissenschaftsverständnis propagiert. Dass dies in späteren interdisziplinären Fachteams zu Kommunikationsproblemen und Verwerfungen führt, ist leicht vorstellbar.

Der Stellenwert der Klinischen Sozialarbeit, die sich schwerpunktmäßig mit den Störungen im psychosozialen Bereich beschäftigt, ist – wiederum im Gegensatz zu den USA – oft nur marginal. Zentrale Studieninhalte in Deutschland sind oft genderspezifische Themen, Diversity, Migration und interkultureller Dialog, ohne dass die tradi­tionellen Themen der Sozialarbeit (Armut, abweichendes Verhalten, Wohnungslosigkeit, Straffälligenhilfe und eben auch Sucht- und Drogenhilfe) ausreichend vertreten sind. Die „klassische“ Sozialarbeit kann dabei durchaus als Übernahmeopfer der expansiven universitären Diplom-Pädagogik gesehen werden, die in Form der Sozialpädagogik inzwischen die meisten Professuren in der Sozialen Arbeit an Fachhochschulen besetzt. Die Anliegen und Themen der Klinischen Sozialarbeit bleiben dabei oft auf der Strecke. Die ­Sozialarbeit hat in weiten Bereichen eine Art „feindliche Übernahme“ durch die Erziehungswissenschaften erfahren, was sich in der inter­national einmaligen Konsequenz der heutigen „Bindestrich“-Absolventen „Sozialarbeit/Sozialpädagogik“ widerspiegelt. Vor diesem Hintergrund ist die stärkere Ausrichtung und Vertiefung der Studiengänge im Bereich Sozialer Arbeit in Richtung Klinischer Sozialarbeit ein wichtiges Anliegen aus der Perspektive der Suchthilfe und der dort notwendigen Qualifikationen.

Im Einzelnen haben wir in diesem Heft für Sie neben einem ausführlichen und auf die erwähnten Kritikpunkte abzielenden Interview mit dem Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe (DG SAS), Herrn Wolfgang Rometsch (Münster), 3 Originalbeiträge, die sich mit der Rolle und Bedeutung der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe beschäftigen. Jeweils ein Beitrag aus historischer, theoretisch-konzeptioneller und empirisch-berufsfeldorientierter Sicht.

Hasso Spode (Berlin und Hannover) beleuchtet die bewegte Geschichte der Suchthilfe von den Anfängen im 19. Jahrhundert bis heute. In seinem Beitrag mit dem Untertitel „Vom Kreuzzug zur Behandlungskette“ wird das enorme ideologische Spannungsverhältnis deutlich, unter dem Suchthilfe immer stand und steht. Dass sich dies auch auf die jeweiligen Handlungskonzepte der Sozialen Arbeit und das praktische Handeln der im Feld Tä­tigen Sozialarbeiter bezieht, ist direkt einleuchtend. Im zweiten Beitrag untersucht Heino Stöver (Frankfurt am Main) Konzepte und Arbeitsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe. Er zeigt u. a. auf, dass sich das Methodenrepertoire der Sozialen Arbeit in den letzten Jahrzehnten erweitert und verändert hat, dass in den Lebenswelten der Abhängigen Sozialarbeiter oft wichtige Mediatorenrollen übernehmen, die von der Sicherung des Überlebens bis hin zur Vermittlung in therapeutische Institutionen reichen.

Im letzten Beitrag zum Themenschwerpunkt berichten Silja Wortberg, Ulrike Kuhn und Michael Klein (Köln) von 2 umfangreichen empirischen Studien, die sich mit dem Tätigkeitsprofil, der Berufszufriedenheit und den Belastungen von Sozialarbeitern in der Praxis beschäftigen. Der Beitrag „Soziale Arbeit in der Suchthilfe – Ergebnisse zweier empirischer Studien zum Berufsfeld“ zeigt in weiten Teilen eine hohe „Normalität der vielfältigen Alltagstätigkeit“ von Sozialabeitern in der Praxis auf, eine erstaunlich hohe Berufszufriedenheit und gleichzeitig auch erhebliche psychische Belastungen durch die Tätigkeit, die von einer Minderheit der Praktiker offenbar nicht gut bewältigt werden, während die Mehrzahl recht gute Copingmechanismen zeigt.

Wir wünschen Ihnen wie immer viel Spaß und Interesse beim Lesen der kurz besprochenen Beiträge, genauso wie auch der ­anderen Inhalte.

Prof. Dr. Michael Klein, Köln