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DOI: 10.1055/s-0033-1350660
Zum 75. Jahrestag des Approbationsentzugs und der „Reichspogromnacht“ – jüdische Augenärzte im Nationalsozialismus
On the 75th Anniversary of the Withdrawal of the Medical License and the “Reichspogromnacht” – Jewish Ophthalmologists during National SocialismPublication History
Publication Date:
28 August 2013 (online)
Mit der „4. Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ vom 25. Juli 1938 erlosch die ärztliche Approbation der jüdischen Ärztinnen und Ärzte zwangsweise zum 30. September 1938. Am 9. November kam es – maßgeblich gesteuert vom Propagandaministerium von Josef Goebbels (1897–1945) – reichsweit zu massiven Übergriffen gegen die jüdische Bevölkerung („Reichspogromnacht“). Beide Ereignisse waren entscheidende Katalysatoren für die Emigration jüdischer Medizinerinnen und Mediziner. Die meisten jüdischen Fachgenossen emigrierten bis 1941 [1], [2]. Wer nicht auswandern wollte oder konnte, beging, wie Sigmund Neuburger oder Fritz Cohn ([Tab. 1]), Suizid, kam ins KZ, wurde in den Osten deportiert und nicht selten in einem der Vernichtungslager ermordet. Einzelne jüdische Kolleginnen und Kollegen überlebten in Deutschland im Untergrund.
Name, Vorname |
Datum der Geburt |
letzter Wohnort |
Schicksal |
---|---|---|---|
1 Quelle: www.ancestry.com, zum Teil Passagierlisten
der Schiffe und Todesanzeigen in der Zeitschrift „Aufbau“, New
York (Bereitstellung der Daten durch C. T.) |
|||
Barczinski, Siegfried1,2 |
16. 11. 1887 |
Köln |
nach Großbritannien emigriert |
Carsten, Paul3 |
9. 8. 1875 |
Berlin |
1936 nach England emigriert, im Oktober 1940 in die USA eingewandert. Am 17. 8. 1956 in New York gestorben |
Cohn, Fritz4 |
8. 8. 1881 |
Mühlhausen/Thür. |
am 29. 11. 1938 Suizid im KZ Buchenwald |
Heller, Willy1 |
9. 7. 1900 |
Nürnberg |
1939 mit Ehefrau Käthe über die Dominikanische Republik in die USA emigriert. Im Januar 1969 in Queens/New York als William Heller gestorben |
Koschland, Simon1 |
11. 9. 1879 |
München |
In die USA emigriert. Am 7. 10. 1960 in San Francisco als Simon Koshland gestorben |
Kurzezunge, Dagobert1 |
5. 2. 1885 |
Frankfurt/Main |
Im April 1937 mit Ehefrau Melanie von Hamburg in die USA emigriert. Am 8. April 1942 in New York als David Kurzezunge gestorben |
Loose, Franz1 |
3. 8. 1899 |
Karlsruhe |
Im April 1940 mit Ehefrau Lise und Tochter Eva in die USA emigriert. Im März 1965 gestorben |
Masur, Martin1 |
14. 3. 1876 |
Gleiwitz/Schlesien |
Mit Ehefrau Adele im Juni 1941 in die USA emigriert. Am 30. 9. 1941 in Los Angeles gestorben |
Neuburger, Sigmund5 |
10. 9. 1867 |
Nürnberg |
am 28. April 1936 Suizid in Nürnberg |
Paradies, Theodor6 |
17. 1. 1884 |
Berlin |
am 27. 6. 1938 im KZ Sachsenhausen gestorben |
Perlmann, Alfred1,7 |
28. 10. 1880 |
Iserlohn/Westf. |
nach Großbritannien emigriert |
Rackwitz, Georg1 |
16. 12. 1903 |
Oppeln/Schlesien |
Im August 1940 in die USA emigriert. Im April 1973 als George Rackwitz gestorben |
Schiff, Fritz1,8 |
12. 2. 1878 |
Berlin |
1940 in die USA emigriert. Am 14. 9. 1963 in den USA gestorben |
Schild, Max1 |
Nürnberg |
Mit Ehefrau Ida im November 1938 von Bremen in die USA emigriert. Am 26. 4. 1950 in Chicago gestorben |
|
Stern, Ernst1 |
1868 |
Kassel |
1938 von Hamburg in die USA emigriert. Dort am 31. 12. 1943 gestorben ([Abb. 4]) |
Stiel, Andreas1 |
1870 |
Köln |
1935 gestorben |
Auch das Schicksal von Max Herzog hat exemplarischen Charakter. Von ihm war bereits bekannt gewesen, dass er frühzeitig in die USA emigrierte (siehe Tab. 3 in [1]), wobei die Emigration aufgrund persönlicher Angaben Herzogs nunmehr auf Ende 1933 zu datieren ist. Max Herzog hatte wie Ernst Schiff ([Tab. 1]) das Friedrichs-Realgymnasium in Berlin-Kreuzberg besucht. Seine Ausbildung zum Augenarzt hatte er 1926–1931 bei Oskar Fehr (1871–1959) am Virchow-Krankenhaus in Berlin und bei Carl Wessely (1874–1953) in der Universitäts-Augenklinik München erhalten ([Abb. 2] und [3]). Sowohl Fehr (Entlassung am 1. Januar 1934) als auch Wessely (Verlust des Lehrstuhls zum 31. Dezember 1935, ungewöhnlicherweise aber „auf Anordnung des Führers“ kein Entzug der Approbation zum 30. September 1938) waren jüdischer Herkunft. Man kann dieses als Indiz dafür werten, dass jüdische Kollegen auch schon in Zeiten der Weimarer Republik jüdische Chefs bevorzugten. Ende 1931/Anfang 1932 eröffnete Max Herzog eine Praxis in Berlin-Niederschöneweide ([Abb. 2]). Den Grund für seine Emigration schilderte er später kurz und knapp mit „1933 wurde mir aus rassischen Gründen die Kassenpraxis entzogen“ ([Abb. 3]). In der Tat begannen die Repressalien gegen jüdische Mediziner bereits 1933 [1]. In den USA praktizierte Max Herzog als niedergelassener Augenarzt zunächst in Chicago, später in Rock Island/Illinois. 1942–1946 stellte er sich der US-amerikanischen Armee zur Verfügung. Max Herzog hatte 2 Töchter. Er starb am 23. November 1983. Zu Fritz Wachtel (siehe Tab. 3 in [1]) kann ergänzt werden, dass er gemeinsam mit seiner Ehefrau Berta am 15. Januar 1938 in die USA emigrierte und am 5. April 1944 in Chicago starb (Quelle: www.ancestry.com). Trotz der schrecklichen Erlebnisse im „Dritten Reich“ scheint bei den meisten Emigranten eine Verbundenheit mit Deutschland auch im Ausland weiter bestanden zu haben ([Abb. 4]).
Vor allem durch die Aufmerksamkeit von Mitbürgern und insbesondere das Forschungsprojekt am Leibniz-Gymnasium Berlin zur Aufklärung des Schicksals ehemaliger jüdischer Schüler, das zur Erschließung der Quelle „Ancestry“ führte, konnte jetzt das Schicksal von weiteren 16 jüdischen Kollegen aus der Zeit des Nationalsozialismus aufgeklärt werden ([Tab. 1]). Die „Statistik“, die sich aufgrund der früheren Zusammenstellungen ergeben hat [1], [2], bleibt im Wesentlichen unberührt ([Tab. 2], Tab. 5 in [1]). Der Anteil der jüdischen Fachgenossen mit ungeklärtem Schicksal reduziert sich auf nunmehr 12 %, was einen vergleichsweise sehr niedrigen Wert darstellt. Nur noch 23 Schicksale (von 188) bleiben offen. Hinweise werden weiterhin dankend entgegen genommen.
n |
% |
|
---|---|---|
1 Fritz Cohns Schicksal wurde unter „Suizid“ gewertet.
Cohn beging den Suizid allerdings im November 1938 im
KZ Buchenwald, sodass er auch zu den KZ-Opfern gezählt werden
könnte. |
||
Emigration |
106 |
64 |
nachweislich in einem KZ oder Gefängnis ums Leben gekommen |
24 |
15 |
deportiert, vermutlich ums Leben gekommen |
2 |
1 |
Suizid1 |
4 |
2 |
In Deutschland bis 1945 wahrscheinlich eines natürlichen Todes gestorben2 |
18 |
11 |
In Deutschland oder besetztem Ausland überlebt |
11 |
7 |
Jede einzelne jüdische Kollegin und jeder einzelne jüdische Kollege aus der Zeit des Nationalsozialismus hat es verdient, dass man sich ihrer/seiner erinnert. Dieses vor allem am 75. Jahrestag von Approbationsentzug und Reichspogromnacht.
-
Literatur
- 1 Rohrbach JM, Süsskind D, Hennighausen U. Jüdische Augenärzte im Nationalsozialismus – eine Gedenkliste. Klin Monatsbl Augenheilkd 2011; 228: 70-83
- 2 Rohrbach JM, Hennighausen U, Gass P. Jüdische Augenärzte im Nationalsozialismus – Aktualisierung der „Gedenkliste“. Klin Monatsbl Augenheilkd 2012; 229: 1235-1237