Psychiatr Prax 2002; 29(6): 285-294
DOI: 10.1055/s-2002-34041
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Wohnen und Arbeit als Kriterien einer „sozialen Integration” psychisch Kranker - Entwicklungen in Deutschland von 1900 bis 2000

Housing and Work as Criteria of the „Social Integration” of the Mentally Ill - Development in Germany Between 1900 and 2000Heinz-Peter  Schmiedebach1 , Thomas  Beddies1 , Jörg  Schulz1 , Stefan  Priebe2
  • 1Institut für Geschichte der Medizin, Universität Greifswald
  • 2Barts and the London School of Medicine, University of London
Die vorliegende Arbeit entstand im Rahmen eines von der DFG geförderten Forschungsprojektes
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
11. September 2002 (online)

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Zusammenfassung

Anliegen: Die vorliegende Arbeit untersucht, welche Rolle die Kriterien Arbeit und Wohnen für eine soziale Integration psychisch Kranker im psychiatrischen Denken im 20. Jahrhundert in Deutschland spielten und welche entsprechenden Versorgungsansätze entwickelt wurden. Methode: 29 deutsche psychiatrische Fachzeitschriften wurden für den gesamten Zeitraum von 1900 bis 2000 durchgesehen und die Beiträge zu den o. g. Fragen ausgewertet. Monografien wurden ebenfalls berücksichtigt. Ergebnisse: Integrative Maßnahmen der Bereiche Wohnen und Arbeit sind bis in die 2. Hälfte des Jahrhunderts hinein vor allem aus der Anstaltspsychiatrie heraus und ohne das Ziel einer vollständigen sozialen Integration entwickelt worden. In dem aktivistischen Konzept der NS-Psychiatrie wurde Arbeit zu einer Patientenpflicht und fungierte als ein Selektionskriterium, das über Leben oder Tod der Patienten entschied. Erst seit den späten 50er Jahren kann in der Psychiatrie in beiden deutschen Staaten wiederum eine Orientierung auf integrative Behandlung festgestellt werden. Während in der DDR mit den Rodewischer Thesen bereits 1963 Empfehlungen für die Rehabilitation psychisch Kranker formuliert wurden, ist ein vergleichbarer Kristallisationspunkt von Reformgedanken in der Bundesrepublik 1975 in der „Enquete” auszumachen. In der DDR blieb es weitgehend bei lokal begrenzten Ansätzen. In der Bundesrepublik und im vereinten Deutschland haben sich - ebenfalls mit starken regionalen Variationen - vielfältige geschützte Wohn- und Arbeitsangebote entwickelt, ohne dass es eine eindeutige Diskussion der Ziele oder strukturellen Implikationen in der psychiatrischen Fachliteratur gegeben hat. Schlussfolgerung: Im Untersuchungszeitraum hat sich eine psychiatrische Ideentradition vor dem Hintergrund von Wohnen und Arbeit nicht entwickelt. Insbesondere von der universitären Psychiatrie sind allenfalls punktuell Impulse ausgegangen. Insgesamt wurde Arbeit häufiger explizit thematisiert als Wohnen, und beide Bereiche haben sich zwar sehr diskontinuierlich, aber doch allmählich als Kriterien einer zunehmend angestrebten Integration psychisch Kranker etabliert.

Abstract

Aim: This paper analyses, in what way psychiatrists considered housing and work as criteria of social integration of mentally ill people and what models of care were suggested in Germany throughout the 20th century. Method: Publications in 29 German professional and scientific psychiatric journals through the complete period from 1900 to 2000 and monographs were searched for papers on the above issues. Results: Until the second half of the century, integrative initiatives related to housing and work generated in asylums without the aim of a full social integration of the patients. In the activistic concept of NS-psychiatry, work became an obligation for patients and a criterion for selection that decided on life and death. Not until the late 1950s, there again was an orientation towards integration in psychiatric care in both German states. Whilst already in 1963 the „Rodewisch Theses” outlined recommendations for the rehabilitation of the mentally ill already in the GDR (East Germany), a similar mark of reform ideas was published in the „enquete” in the FRG (West Germany) in 1975. In the GDR intiatives were limited to a small number of locations. In the FRG and the re-unified Germany various forms of sheltered housing and work were established - also with significant regional variation. However, a clear discussion of underlying aims and implications for the structure of mental health care was not found in the psychiatric literature. Conclusions: In the 20th century a tradition of psychiatric ideas related to housing and work did not develop in Germany. Particularly, there were only sporadic contributions from university psychiatry. Work was more frequently explicit subject of discussions than housing. Both areas were - slowly and in discontinuity - established as criteria of integration of people with mental illnesses, which was increasingly accepted as an aim of mental health care.

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