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DOI: 10.1055/s-2004-825044
Der „Gefahrenbericht“ aus katastrophensoziologischer Sicht – Zu seiner Bedeutung für den Öffentlichen Gesundheitsdienst
I. Die Vulnerabilität unserer Gesellschaft auch für Katastrophen ist unvermeidbar, der damit befasste Zivil- und Katastrophenschutz spannt sich von staatlicher Vorkehr, Planung und bei Eintritt: Linderung bis zum Selbstschutz. Der „Zweite Gefahrenbericht“ der „Schutzkommission“ von 2001 sollte einschlägig warnen und raten. Denn zuvor (bis zum 11.9.01) waren die Verheerungen des Friedens durch A-, B-, C-, später durch D-, E- und F-Gefahren offiziell herunter gespielt worden. Dazu kam die Vernachlässigung der Katastrophenmedizin an den deutschen Universitäten. Zivilschutz spielt auch im Aufgabenspektrum des ÖGD eine untergeordnete Rolle. Dies kann nicht nur für die Volksgesundheit fatal sein, sondern gefährdet nachhaltig die öffentliche Legitimation medizinischer und medizinbezogener Berufe.
II. ABCDEF -Gefahren drohen. Sie umfassen (einzeln kurz skizziert) atomare, biologische, chemische, datennetzbezogene Gefahren, ferner Gefahren durch den (nuklearen) Elektromagnetischen Impuls und durch die spontane Freisetzung mechanischer und thermischer Energie. Sie sind als Waffenwirkung wie als ungewollte Unfallfolgen tendenziell alle Flächendecker. Seit 1990 wachsen sie an, da seither alle Zwischenformen zwischen „Frieden“ und „Krieg“ exerziert werden. Zumal in Kriegs- und Terrorfällen wird der ÖGD mit größten personellen Lücken rechnen müssen, vor allem im Bereich der medizinbezogenen (helfenden, zuarbeitenden) Berufe; auch in der Zuarbeit anderer öffentlicher Stellen.
Besondere soziale Obacht gilt für den ÖGD bei B-Gefahren, da sie vermutlich das höchste Entsetzen erregen werden. Mit Folgen: Sündenbocksuche, Zerreißen der gemeinschaftlichen sozialen Netze: Dies entlegitimiert auch die staatlichen Ordnungen, zumal deren Rechtsstruktur und: den Gesundheitsdienst. Es mangeln katastrophenmedizinische Kenntnisse der Ärzteschaft, Hilfskrankenhäuser, die (zunächst geleerten) öffentlichen Arzneidepots; gefährlich ist die steigende Medikamentimmunisierung gegen der Rückkehr fähige Volksseuchen, die nur an der Alltagsnachfrage orientierte Produktions- und Lagerpolitik der pharmazeutischen Industrie und die Lagerpolitik der Apotheken.
III. Die Lücken der Gefahrenabwehr alarmieren. Für den ÖGD liegen sie zumal im Mangel an: ärztlicher und pharmazeutischer Vorkehr, Betten, Isolierstationen, Depots, sodann an Eventualorganisationen. Dazu kommen die Lücken der Warnung, der Not-Wasserversorgung, im baulichen Schutz, und zumal in der Motivation, sich in und für Hilfsorganisationen zu engagieren. Endlich die Selbstschutzlücke: In Katastrophen sind die kleinen Gruppen und die Einzelnen zunächst und meist länger als gut tut: allein. Deutschland ist voll von Leuten, die sich nicht an ihrem vertrauten Wohnort aufhalten, von Singles (darunter vielen Alten und Siechen), allgemein: voll von Schutz-Laien. Im den Haushalten mangeln Kenntnisse, Vorräte, Obacht. Eine einfache, bei Alltagsgefahren ansetzende „Schutzfibel“ für jeden Haushalt – verbunden mit einem öffentlich vorgehaltenen Satz abrufbarer Ratschläge und Hilfen – gibt es nicht. Die Aversion der ärztlichen Verbände gegen Literatur für medizinische Selbsthilfe und -medikamentation ist bekannt.