Aktuelle Dermatologie 2004; 30(6): 226-228
DOI: 10.1055/s-2004-825799
Kleine Kulturgeschichte der Haut
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Zur Genese des modernen Organverständnisses - Rhinoplastiken und Handtransplantationen in literarischen Bearbeitungen

On the Genesis of the Modern View of Organs - Rhinoplastics and Hand Transplants in Literary PublishingB.  Kathan
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Publication Date:
09 July 2004 (online)

Die Literaturgeschichte kennt überraschend viele Bearbeitungen von Organverpflanzungen. Überblickt man das Material, so ist man mit höchst unterschiedlichen Motiven konfrontiert, die allerdings mehr von kultur- als von medizinhistorischer Bedeutung sind. Die meisten literarischen Bearbeitungen von Organverpflanzungen fallen in die Zeit zwischen 1890 und 1935. Ordnet man insgesamt die literarischen Bearbeitungen einzelnen Organen zu, dann fällt auf, dass manche von ihnen im Widerspruch zur medizinischen Praxis überrepräsentiert sind, während andere weitgehend fehlen. So finden sich etwa erstaunlich viele Bearbeitungen von Rhinoplastiken, obwohl sie in der beschriebenen Form wohl nie durchgeführt wurden. Die Niere zählt zu den häufigst transplantierten Organen. In literarischen Bearbeitungen ist sie dagegen vollkommen unterrepräsentiert. Sie findet sich meist nur in autobiografischen Berichten, in Romanen, die von gewaltsamer Organbeschaffung, Organhandel oder ähnlichem handeln. Unter den Organen ist das Gehirn besonders prominent vertreten. Lebende Köpfe und Gehirne, die in Nährflüssigkeiten liegen oder verpflanzt werden, bieten sich für literarische Bearbeitungen geradezu an. Dies verdankt sich vor allem dem Umstand, dass Literatur, will sie erfolgreich sein, Stoffe mit hohem Identifikationswert benötigt. Die meisten der Beispiele kennen einen grundlegenden Widerspruch. Während sich in der Literatur Eingriffe beschreiben lassen, die zu diesem Zeitpunkt nicht möglich oder überhaupt nicht denkbar sind, hinken die darin behandelten Phantasmen den praktischen Erfahrungen der Medizin in der Regel nach.

Die Haut zählt in diesen Bearbeitungen zu den am wenigsten behandelten Organen. Abgesehen etwa von einem Briefentwurf aus dem Jahr 1908, in dem Robert Musil von einer gegenseitigen Hautverpflanzung phantasiert [1], wird sie fast ausschließlich in Verbindungen mit frühen Rhinoplastiken oder Handtransplantationen erwähnt. Eine der wenigen Ausnahmen bildet Jean Redons Horrorgeschichte Les Yeux sans visage aus dem Jahr 1959, die von Georges Franju verfilmt wurde. Ein Arzt versucht, das Gesicht seiner Tochter, welches bei einem von ihm verschuldeten Unfall entstellt wurde, durch die Transplantation eines Gesichts wieder herzustellen. Seine Bemühungen bezahlen mehrere junge Frauen mit ihrem Leben. Abgesehen von den offenkundigen Problemen einer Hauttransplantation hat der Horrorklassiker jedoch mehr den im Genre oft zitierten verbrecherischen Arzt oder größenwahnsinnigen Wissenschaftler zum Gegenstand.

1862 erschien die wohl dichteste literarische Bearbeitung einer Rhinoplastik, nämlich Edmond Abouts satirische Erzählung Die Nase des Herrn Notar, 1920 Maurice Renards Roman Orlacs Hände, die erste prominente Bearbeitung einer Handtransplantation. Die beiden Daten decken sich nahezu mit Beginn und Ende der Frühphase der Transplantationsmedizin, die 1883 mit der Verpflanzung einer Schilddrüse begann und in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts nach einer kurzen euphorischen Phase (insbesondere was die Verpflanzung von Hodengewebe betrifft) ernüchternd endete [2].

Die beiden Romane sind medizinhistorisch nicht allein deshalb von Interesse, weil beide Autoren, wenn auch in spekulativer Weise, medizinische Literatur verarbeiteten, sondern weil sie die grundlegenden Verschiebungen von Körper- und Krankheitsvorstellungen belegen.

In Edmond Abouts Erzählung verliert ein Notar bei einem Duell seine Nase. Erst als der Arzt eintrifft, beginnt die Suche nach dem verlorenen Organ. Die Nase wurde, wie sich bald herausstellt, von einer Katze gefressen. Der Arzt nennt dem Patienten die im neunzehnten Jahrhundert bekannten Möglichkeiten des Nasenersatzes, neben einer aus Silber gefertigten und ähnlich einer Augenklappe am Kopf befestigten Nasenattrappe die chirurgische Behandlungsform einer Rhinoplastik. Da der Notar nicht auch noch am Arm verstümmelt werden will, wird ein Spender gesucht, der bereit ist, gegen entsprechende Bezahlung einen Hautlappen seines Arms abzutreten. Der Eingriff gelingt, doch schon bald zeigen sich die ersten Komplikationen. Die Nase des Notars verfärbt sich rot, da der „Spender” jenes Geld, welches er für das Stückchen Haut und die erlebten Strapazen erhielt, vertrinkt. Eine Behandlung dieses Übels kann deshalb nur bedeuten, den Spender selbst zu behandeln, diesem Diäten zu verschreiben und ihn zu einem disziplinierten Lebenswandel zu führen. Als dessen Arm schlussendlich von Zahnrädern zerquetscht wird, fällt die Nase des Notars ab. Die verwendete Haut stammt wie in den meisten anderen Bearbeitungen nicht von einem der eigenen Arme, sondern vom Arm eines Wasserträgers. Auch wenn es Tagliacozza für denkbar hielt, die Haut eines anderen zu verwenden, so sah er zu große Schwierigkeiten darin, zwei Menschen etwa zwanzig Tage fest aneinanderzuschnüren [3].

Auch in Maurice Renards Roman klingen noch sympathetische Vorstellungen an. Dem bei einem Eisenbahnunglück verletzten Pianisten Stephen Orlac werden die Hände des Mörders Vasseur transplantiert. Stephen Orlac glaubt, die Hände eines Mörders würden ihn zu einem Mörder machen. Misstrauisch beobachtet er alle Zeichen, welche dies zu bestätigen scheinen. Sie werden bearbeitet und überarbeitet. Oberflächenbehandlung: Salben, Tinkturen, Färbemittel. Technisches Gerät: das stumme Klavier, Massageinstrumente, Fingerkuppen aus Blei, Elektrisiermaschinen, Zitterapparate. Belebung: Massage, sanftes Streichen, Beklopfen, Kitzeln. Zusätzlich ist eine strenge Diät einzuhalten. Trotz aller haarzerstörenden Pasten wachsen blonde Haare und erinnern daran, die Hände eines anderen zu haben. Sie bleiben fremd, die Hände eines Mörders. Maurice Renard bemühte zwar noch das Motiv von den Mörderhänden, auch jenes vom Toten, der zurückkehrt, um sich das geraubte Organ zu holen, nicht ohne all dies in den Bereich des Aberglaubens und des Schwindels zu verweisen. Am Ende des Romans kann sich der Empfänger mit den fremden Händen versöhnen, allerdings erst als sich herausstellt, dass er Opfer eines geschickt inszenierten Erpressungsversuches wurde, der sich diesbezügliche Vorstellungen zu Nutze machte. Interessanterweise assoziiert der Betrogene den Gebrauch der transplantierten Hände selbst mit einem möglichen Betrug: „Das Übel ist geschehen! Es kommt von meinem Schweigen, ich hätte dir von Anfang an sagen müssen - aber ich fürchtete diese Hässlichkeit - sagen müssen: ‚Ich hab' Mörderhände!‘ … Ich wagte nicht mehr, dich anzurühren … Ich hätte dabei an irgend einen schamlosen Betrug gedacht! Diese Hände haben mich von dir entfernt! Es schien mir, als ob ihr Fleisch das meinige beschmutzte und mein Blut in ihren Gefäßen den Sinn nach dem Morden annahm!”

Bei About wird vor allem noch zugeführt und abgeleitet. Das Inventar reicht dabei von zugeführter Wärme, stärkenden Suppen und Brühen, in welche die geschwollene und entzündete Nase getaucht wird bis hin zu ableitenden Maßnahmen, etwa Blutegeln. Auch wenn sich die Nase als Organ nur bedingt mit der Hand gleichsetzen lässt, so fällt doch auf, dass all diese Praktiken in Renards Roman weitgehend verschwunden sind. Die von Renard angeführten Praktiken sind nicht weit entfernt von heutigen physiotherapeutischen Behandlungsformen. Während bei About das Fremdorgan noch zwingend in der Abhängigkeit vom Spender gedacht wird, deutet sich bei Renard eine zentrale Verschiebung an. Fortan liegt es am Empfänger, das fremde Organ als eigenes zu akzeptieren.

1998 wurde Clint Hallam von einem Lyoner Chirurgenteam als erstem Menschen eine Hand transplantiert. Er hatte sie durch einen Unfall verloren. Die aufwändige Operation gelang. In den zunächst tauben Fingern entwickelte sich Gefühl. Unterstützt durch intensive Handgymnastik vermochte Hallam die transplantierte Hand zunehmend wieder zu bewegen. Schon nach erstaunlich kurzer Zeit war er in der Lage, ein Messer zu halten, verfügte aber noch nicht über genügend Kraft, um damit Fleisch zu schneiden, wie es der behandelnde Arzt formulierte. Kurz nach dem sensationellen Eingriff wurde erstmals eine beidseitige Handverpflanzung mit Erfolg durchgeführt. Hallam ließ sich die fremde Hand wieder amputieren. Schon davor wurde berichtet, der Patient erscheine nicht so häufig zu den Untersuchungen wie dies nötig sei. Auch war zu lesen, es handle sich bei ihm um einen Betrüger. Seine Hand habe er in einem Gefängnis bei der Arbeit an einer Kreissäge verloren. In einer österreichischen Boulevardzeitung war neben einem Bericht über diese Amputation ein Nacktfoto eines Models zu sehen. Darunter stand zu lesen: „Männer mit schmutzigen Fingernägeln kann Judit nicht ausstehen. Unser Tipp für Verehrer der feschen Ungarin lautet daher: Die Hände immer schön sauber halten.” [5] Offensichtlich ein Kommentar der Handgeschichte. Die „schmutzigen Finger” meinen nicht nur den Dieb, sondern stellen die Hand in den Kontext der Sexualität. Während im Grimmschen Märchen Die drei Feldscherer (Abb. [1]) die Hand des gehenkten Diebs den „Empfänger” zu einem Dieb macht, wurde sie bei Clint Hallam als sauber behauptet und er selbst als Dieb entlarvt.

Abb. 1 Die drei Feldscherer, Märchen Nr. 118 der Gebrüder Grimm. Nachdem der eine seine rechte Hand als Pfand gab und diese von der Katze gefressen wurde, war ihm die rechte Hand eines gehängten Diebes, bestrichen mit einer heilenden Salbe, alsbald wieder angewachsen. Der mit der Diebshand aber verspürte fortan immer wenn er Geld sah in der rechten Hand ein Zucken und einmal wurde er auch beim Zugreifen erwischt. Da ein Rücktausch nicht mehr möglich war, gingen die drei Feldscherer so tauschbelastet in die weite Welt. Der mit der Diebshand ist der links im Bilde. Die geheimnisvolle Salbe stimulierte das Anwachsen und verhinderte die Abstoßung, was den Dermatologen bis heute immer noch als Traum vorschwebt.

Literatur

Bernhard Kathan, Kulturhistoriker

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