Im 13. Buch der Odyssee erwacht der Held nach nächtlicher Fahrt auf heimatlichem
Boden. Von Athene erfährt er die näheren Umstände der Bedrohung seines Hauses,
dem er sich listig in der Gestalt eines Bettlers nähert. Er bleibt für alle unerkannt.
Selbst Penelope erkennt in dem „Bettler”, der sie auf die Rückkehr des Odysseus
vorbereitet, den Gatten nicht wieder. Nur der Hund Argos spürt hinter der angenommenen
Maske die wahre Identität seines alten Herrn auf. Der „Blick” des Menschen, auch
aus dem intimsten Familienkreis, trügt und wird von vorgetäuschter Identität in
die Irre geführt. Der Text spitzt damit eine Frage zu, die das Epos in allen seinen
Episoden durchgespielt und in den mannigfaltigen Facetten des Problems ausgelotet
hat: Die „Suche” - symbolisch gestaltet in der Irrfahrt - nach den Wurzeln des
Ich wirft die entscheidende Frage nach dem Wesen des Selbst und der Anderen, nach
dem Ver- und Entbergen von Identität auf. Im gegenwärtigen wissenschaftlichen
Jargon lautet die erste Frage: Wie kann sich eine Person in der Gemeinschaft anderer
inszenieren, wie kann sie ihrerseits die gesellschaftliche Inszenierung von Wirklichkeit
durchschauen und beeinflussen, wie kann man sich in der Welt „verorten”.
Literatur
1 Homer . Odyssee. Griechisch und Deutsch. Übertr. von Anton Weiher. 11. Auflage. Düsseldorf; Artemis & Winkler 2000
5 Elias N. Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen,
Band I: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes.
Frankfurt/M; Suhrkamp 1997: 198
6 Corbin A. Histoire de la vie privée (Hrsg. Ariès P, Duby G). Bd. 4: De la Révolution à
la Grande Guerre (Hrsg. Perrot M). . Paris; Editions du Seuil 1987: 419-436
14 Schulz D. Suche und Abenteuer. Die „Quest” in der englischen und amerikanischen Erzählkunst
der Romantik. Heidelberg; Carl Winter Universitätsverlag 1981: