Z Gastroenterol 2018; 56(04): 425-426
DOI: 10.1055/a-0582-9252
Mitteilungen der Gastro-Liga
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Paradigmenwechsel in der ernährungsmedizinischen Behandlung gastrointestinaler Erkrankungen

Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
11. April 2018 (online)

Kein Teilgebiet der Medizin hat in den letzten Jahren so gravierende Paradigmenwechsel vollzogen wie die Ernährungsmedizin. Das gilt insbesondere für die Behandlung vieler gastroenterologischer Erkrankungen, wie die akute und chronische Pankreatitis oder die Leberzirrhose, die wir heute ernährungsmedizinisch diametral zu unseren Vorstellungen und Empfehlungen von vor ein bis zwei Dekaden behandeln. Die jahrzehntelang wider besseres Wissen propagierten Ernährungsstrategien der totalparenteralen Ernährung bei schwerer akuter Pankreatitis oder der Proteinrestriktion bei Leberzirrhose haben den betroffenen Patienten nicht nur nichts genutzt, sondern nach unserem heutigen Verständnis erheblich geschadet.

Darüber hinaus haben wir aber auch einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel in unserem Verständnis für Ernährung und ernährungsmedizinische Intervention durchgemacht. Galt bis in die 90er Jahre Ernährung als Basismaßnahme und Teil der Grundpflege, die von ärztlicher Seite aus gewährleistet werden sollte, ist Ernährungsintervention heute sowohl unter ethischen als auch unter medizinischen und juristischen Aspekten effektiver Teil ärztlicher Therapie und Prävention und bedarf daher immer einer medizinischen Indikationsstellung und einer ethischen Rechtfertigung.

Akute Pankreatitis Die akute Pankreatitis ist ein Paradebeispiel für den oben beschriebenen Paradigmenwechsel und belegt überzeugend, dass gezielte Ernährungsintervention hocheffektiver Bestandteil ärztlicher Therapiemaßnahmen ist. Das früher geltende und durch nichts belegte Dogma einer totalparenteralen Ernährung wurde bei Patienten mit nekrotisierender Pankreatitis durch das Konzept der frühzeitigen enteralen Ernährung ersetzt, so wie es mittlerweile für alle kritisch Kranken besonders auf der Intensivstation und postoperativ seit vielen Jahren klinischer Standard ist. Frühzeitige enterale Ernährung dient hier nicht primär der Nährstoff-/Kalorienzufuhr, sondern ist elementar für die strukturelle und funktionelle Aufrechterhaltung der gastrointestinalen Integrität. Heute gibt es sechs publizierte Metaanalysen, die überzeugend belegen, dass eine frühzeitig enterale Ernährung hochsignifikant sowohl die Mortalität (odds ratio 0,18 [CI 0,06 – 0,58] in der Cochrane-Metaanalyse von Al Omran) als auch die Morbidität verbessert. Die DGEM-/DGVS-Leitlinien empfehlen bei nekrotisierender Pankreatitis eine frühzeitige (< 24 – 48 Std.) enterale Ernährung über eine nasogastrale Sonde (A).

Leberzirrhose Aus Sorge vor einer hepatischen Enzephalopathie wurde viele Jahre bei Patienten mit Leberzirrhose eine proteinarme Ernährung propagiert. Klinische Studien belegen überzeugend, dass eine proteinbewusste Ernährung, die der immer vorhandenen Eiweißkatabolie entgegenwirken soll, nicht das Risiko für eine HE steigert, weshalb heute in den Leitlinien 1,2 – 1,5 g Protein/kg KG/Tag empfohlen werden. Eine gezielte enterale Ernährung ist Therapie der 1. Wahl bei Patienten mit Leberzirrhose. In den DGEM-Leitlinien steht wörtlich: „Eine enterale Ernährung verbessert den Ernährungsstatus und die Leberfunktion, reduziert die Komplikationshäufigkeit und verlängert das Überleben bei Leberzirrhose; sie soll bei Leberzirrhosepatienten angewandt werden (A)“.

Gibt es wissenschaftlich begründete Organdiäten? Viele Ärzte und Patienten scheinen sich schlecht von der Vorstellung trennen zu können, dass die Erkrankungen der inneren Organe einer Schonkost oder Diät bedürfen. Für die gastroenterologischen Organe gibt es keine spezifischen Diäten; es gilt grundsätzlich die Empfehlung für ausgewogene, abwechslungsreiche, gesunde Vollkost unter Meidung oft vorhandener individueller Unverträglichkeiten.

Perioperative Ernährung Den größten ernährungsmedizinischen Paradigmenwechsel hat die Chirurgie vollzogen: Haben wir früher postoperativ auf die ersten Mobilitätssignale des Darmes gewartet, bevor wir ihn enteral belastet haben, wird heute konsequent frühzeitig oral ernährt, damit der Darm aktiv, mobil und integer bleibt. Die neuen perioperativen Behandlungskonzepte, wie „Fast-Track“ oder „ERASE“ haben mit vielen tradierten chirurgischen Vorstellungen aufgeräumt und haben die bisher eher mechanistischen Vorstellungen durch eine metabolische Betrachtung der perioperativen Behandlungssituation ersetzt.

Künstliche Ernährung über PEG-Sonden Auch unsere medizinischen, ethischen und juristischen Vorstellungen über die künstliche Ernährung haben sich in den letzten 20 Jahren fundamental geändert. Die Ernährung über eine PEG-Sonde ist heute nicht mehr Teil einer Grundpflege und damit Basismaßnahme am Ende eines progredienten Krankheitsprozesses. Sie ist vielmehr eine therapeutische ärztliche Maßnahme, für die eine medizinische Indikation und eine ethische Rechtfertigung vorliegen müssen. Nach unserem neuen Schlüsselverständnis ist die Ernährung über eine PEG-Sonde vom Charakter her präventiv, frühzeitig, oft passager und fast immer supportiv. Leider legen wir immer noch zu viele PEG-Sonden bei den „falschen“ Patienten und bedauerlicherweise zu selten und in der Regel zu spät bei den „richtigen“ Patienten.

Informationen zum Autor

Prof. Dr. med. Christian Löser ist Facharzt für Innere Medizin, Gastroenterologie, Sportmedizin, Ernährungsmedizin und Palliativmedizin. Von 1985 – 1990 arbeitete er an der Universitätsklinik Göttingen bei Prof. Dr. med. W. Creutzfeldt und von 1991 bis 2001 zuletzt als leitender Oberarzt an der I. Med. Universitätsklinik in Kiel bei Prof. Dr. med. U. R. Fölsch. Seit 2001 ist er Chefarzt der Med. Klinik der DRK-Kliniken Nordhessen. Neben der Gastroenterologie gilt sein klinisch-wissenschaftliches Interesse insbesondere der klinischen Ernährungsmedizin (Entwicklung des „Kasseler Modells“) sowie der Ethik in der Medizin (Ernährung am Lebensende). Prof. Dr. med. Christian Löser ist aktives Mitglied in 15 Fachgesellschaften und zurzeit Kongresspräsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM).

Prof. Dr. med. Christian Löser
Chefarzt
Medizinische Klinik
DRK-Kliniken Nordhessen
Hansteinstraße 29
34 121 Kassel
chr.loeser@drk-nh.de