Zeitschrift für Phytotherapie 2019; 40(04): 145-146
DOI: 10.1055/a-0918-9605
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Liebe Leserinnen und Leser,

Rainer Stange
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Publication Date:
19 September 2019 (online)

Phytotherapie ist die gezielte Anwendung traditionell genutzter Heilpflanzen zu präventiven und therapeutischen Zwecken bei Mensch und Tier, verbunden mit der Verbesserung des Wissens mit allen verfügbaren Methoden der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung, wie der klinischen Evaluation – so könnte man gemeinhin denken. In diesem Wissens- und Praxisgebäude, in das sich die meisten am Thema Interessierten eingekuschelt haben dürften, vollzieht sich Fortschritt relativ linear. Insbesondere bleiben aus der Vielzahl der in den jeweiligen Kulturen anzutreffenden Heilpflanzen selbst, wie der noch viel größeren Zahl ihrer Indikationen, peu à peu einige auf der Strecke und erhalten dann eine eher historische Bedeutung. Am Ende steht man auf sehr gefestigtem Grund.

Dieses Bild stimmt nur überwiegend. Phytotherapie ist auch für Überraschungen gut und sollte sich weiterhin für diese offen halten. Wir lernen im Arzneipflanzenporträt in diesem Heft über das Herzgespann. Dies ist kein Aphrodisiakum, wie der Name vielleicht assoziieren lässt, sondern u. a. ein Kardiakum, das nahezu in Vergessenheit geraten ist. Unser Mitherausgeber Matthias F. Melzig, ein Freund und Kenner nahezu vergessener Heilpflanzen, stellt uns mit seinem Ko-Autor Xinting Zhang dankenswerterweise diesen vielleicht noch zu hebenden Schatz in einem ausführlichen Porträt vor (Beitrag S. 187). Es scheint oft, dass Phasen, in denen eine Heilpflanze sich größter Beliebtheit mit meist schillernd breiten Indikationsansprüchen bis hin zur „Modedroge“ erfreut, irgendwann ihren sicheren Tod herbeiführen, und es dann mehrerer Generationswechsel bedarf, bis man ihren wahren Wert für dann allerdings deutlich weniger Indikationen erkennen kann.

In diesem Heft lesen Sie auch von einem höchst berufenen Autorenteam zu Inhaltsstoffen diverser Sonnenhut (Echinacea)-Extrakte bzw. -Presssäfte (Beitrag Bauer, S. 148). Werfen Sie auch gerne einen Blick ins Literaturverzeichnis, das Ihnen die Kontinuität der Beschäftigung mit dieser nicht ganz einfachen Thematik zeigt! Auch wenn Ihnen diese Materie etwas trocken vorkommt, sie ist ungeheuer wichtig und wurde in etwa zwei Jahrzehnten klinischer Sonnenhutforschung mit z. T. recht kontroversen Ergebnissen lange Zeit sträflich vernachlässigt. Dies führte u. a. dazu, dass eine gewisse Euphorie für Phytos wie Echinacea-Zubereitungen in den USA der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts relativ jäh abbrach, weil klinische Studien trotz großzügiger Finanzierung und hoher methodologischer Qualität (‚Good clinical practice‘) oft nicht die Ergebnisse brachten, die man erwartet hatte, und so letztlich kein Phyto, also auch nicht Echinacea, nur annähernd die angepeilten FDA-Hürden nehmen konnte. Die mit Phytotherapie meist unerfahrenen Forschergruppen hatten jedoch oft der Spezifität der Studienmedikation keine Bedeutung geschenkt, sondern geglaubt, dass man eine Pflanze ähnlich wie ASS prüfen könne.

Etwas Ordnung in die sicherlich nicht ganz einfache Phytotherapie bringen traditionsgemäß Pflanzenmonografien. In logischer Fortsetzung hat sich aus der national sehr erfolgreichen Einrichtung der Kommission E der deutschen Aufsichtsbehörden schon vor 30 Jahren eine immer noch sehr aktive europäische Gruppe gebildet, die fast nur noch unter ihrem Kürzel ESCOP bekannt ist. Herzlichen Glückwunsch!! Wir widmen dieser Erfolgsgeschichte gerne einen kleinen Rückblick (Beitrag Steinhoff S. 165). Viele wissen heute nicht mehr, dass dieses Gremium bereits viele Jahre intensiv arbeitete, bevor die European Medicines Agency (EMA) mit ihrer Einrichtung des Committee on Herbal Medicinal Products (HMPC) an den Start ging. Dessen Verdienste sollen nicht geschmälert werden, es unterliegt jedoch auch dem Stress einer politisch vertretbaren Konsensfindung unter den demnächst nur noch 27 Mitgliedsstaaten.

Alle reden über das Wetter bzw. das Klima – seit der Veröffentlichung des jüngsten Berichtes des Weltklimarates IPCC am 8.8.2019 umso mehr. Dem können und wollen wir uns nicht verschließen. Das Deutsche Ärzteblatt hat kürzlich ein Heft mit Titelbild und ungewöhnlich umfangreichem Fortbildungsschwerpunkt aus drei Artikeln samt Vorwort den zu erwartenden nachteiligen gesundheitlichen Auswirkungen von Temperaturerhöhungen bei uns gewidmet [1]–[4]. Darüber hinaus berichtete es dankenswerterweise kurz zuvor in einem nur halbseitigen Artikel, der leider nicht in das online-Archiv Eingang fand, dass zahlreiche gängige Pharmaka, darunter Kardiaka wie Betablocker und gängige Psychopharmaka ungünstig die Thermoregulation behindern und deshalb in Hitzeperioden insbesondere für ältere Patienten bedenklich sein könnten [5] – von einer völlig neuen Kontraindikation wagt man offenbar noch nicht zu sprechen. Übersterblichkeit aus Hitzeperioden wird mittlerweile recht genau erfasst. Etwa in Deutschland soll die ‚Zahl der hitzebedingten Todesfälle zwischen einigen Hundert und vielen Tausenden pro Saison‘ausmachen [6]. Günstige wie ungünstige Beeinflussung der Thermoregulation unter hohen Außentemperaturen könnten zunehmend Beurteilungskriterien für Medikamente werden.

Können Pflanzen hier helfen? Das ist m.W. bislang nicht untersucht, aber vorstellbar. Konstitutionsorientierte Ernährungslehren kennen Lebensmittel und auch Kräuter, die kühlend wirken. Etwa in der Traditionellen Chinesischen Medizin sind es einige Lebensmittel, z. B. Joghurt und Wassermelone. Ayurvedische Ernährungsempfehlungen bei Hitze schließen Gewürze und damit potenziell Phytopharmaka wie Kardamom, Koriander und Fenchel in Verbindung mit zahlreichen Lebensmitteln ein. Dem Abendländer fällt leicht die Salatgurke z. B. im Gazpacho ein. Die eigentliche Temperatur des Lebensmittels ist dabei sekundär. Vielleicht sind das Herzgespann oder auch der Weißdorn (die Arzneipflanze des Jahres 2019) in der Lage, das vulnerable Herz des Älteren gegen deletäre Einflüsse der Hitze zu schützen, die ja sicherlich neben unmittelbaren thermischen Wirkungen auch ungünstige regulatorische mit sich bringt? Beide haben u. a. die Indikation „nervöse Herzbeschwerden“, was immer nervös heißen mag. Resilenzsteigerung ist das klassische Ziel der Adaptogene, die bislang eher gegen Infektanfälligkeit oder Erschöpfung geprüft und eingesetzt wurden. Man könnte sie leicht auch bezüglich der Reaktionslage bei Thermostress untersuchen. Lassen Sie uns darüber nachdenken!

Vom 19. bis 21. September 2019 findet der Jahreskongress der Gesellschaft für Phytotherapie in Münster statt. Vielleicht sehen wir uns zu einem Pausengespräch? Redaktion und Herausgeber sind immer an Rückmeldungen und Anregungen der Leser interessiert – natürlich auch an spannenden Artikeln!

Mit freundlichen kollegialen Grüßen

Rainer Stange

 
  • Literatur

  • 1 Nowak D. Erderwärmung – ein Blick auf Deutschland. Dtsch Arztebl Int 2019; 116 (31-32): 519-520 . doi:10.3238/arztebl.2019.0519
  • 2 Chen K, Breitner S, Wolf K. et al. Zukünftige Häufigkeit temperaturbedingter Herzinfarkte in der Region Augsburg. Eine Hochrechnung auf der Grundlage der Zielwerte der Pariser UN-Klimakonferenz. Dtsch Arztebl Int 2019; 116 (31-32): 521-527 . doi:10.3238/arztebl.2019.0521
  • 3 Aghdassi SJS, Schwab F, Hoffmann P, Gastmeier P. Assoziation von Klimafaktoren mit Wundinfektionsraten. Daten aus 17 Jahren Krankenhaus-Infektions-Surveillance. Dtsch Arztebl Int 2019; 116 (31-32): 529-536 . doi:10.3238/arztebl.2019.0529
  • 4 Leyk D, Hoitz J, Becker C. et al. Gesundheitsgefahren und Interventionen bei anstrengungsbedingter Überhitzung. Dtsch Arztebl Int 2019; 116 (31-32): 537-544 . doi:10.3238/arztebl.2019.0537
  • 5 Hillienhof A. Patientensicherheit: Welche Medikation bei großer Hitze Probleme bereiten kann. Dtsch Arztebl 2019 116. (27-28): A-1345 / B-1109 / C-1093
  • 6 Siegmund-Schultze N. Übersterblichkeit bei Hitzewellen in Deutschland: Zahl der hitzebedingten Todesfälle zwischen einigen Hundert und vielen Tausenden. Dtsch Arztebl 2019 116. (31-32): A-1439 / B-1191 / C-1175