Gesundheitswesen 2019; 81(11): 945-954
DOI: 10.1055/a-0965-6748
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Medizinische Behandlungsmethoden: Was macht sie medizinisch notwendig? Teil II: Weitere Kriterien, Übermaßverbot, wandernde Grenzen und Grauzonen

Medical Methods: What Makes them Medically Necessary? Part II: Further Criteria, Overuse, Moving Thresholds, and Grey Zones
Heiner Raspe
1   Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin; Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Münster
,
Daniel R. Friedrich
1   Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin; Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Münster
,
Anke Harney
2   Institut für Sozial- und Gesundheitsrecht, Ruhr-Universität Bochum, Bochum
,
Stefan Huster
2   Institut für Sozial- und Gesundheitsrecht, Ruhr-Universität Bochum, Bochum
,
Bettina Schoene-Seifert
1   Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin; Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Münster
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Publication Date:
09 October 2019 (online)

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Zusammenfassung

Ziel der Studie „Medizinische Notwendigkeit“ (MedN) ist ein unscharfer Begriff. Ziel unseres Projekts ist es, ihn zwischen Medizinethik, Sozialrecht und Sozialmedizin so zu konkretisieren, dass er sich für die Versorgungssteuerung v. a. im Bereich der GKV eignet. In Teil I unseres Textes identifizierten wir Wirksamkeit, (Netto)Nutzen und die entsprechenden Evidenzlagen als obligatorische Kriterien von MedN. Hier folgt Teil II mit Überlegungen zu weiteren Kriterien.

Methodik Siehe Teil I

Ergebnisse (Teil II): Als weitere MedN-Kriterien zur Beurteilung medizinischer Methoden diskutieren wir kritisch deren Praxisbewährung, Nutznießer, theoretische Grundlagen, Alternativlosigkeit und Kosten sowie Eigenverantwortung, Mitwirkung und Präferenzen der Patienten. MedN hat Unter- und Obergrenzen und muss sich auch mit verschiedenen Fallkonstellationen der Überbehandlung (u. a. infolge schleichender Indikationsausweitung oder ökonomisch getriebener Medikalisierung) auseinandersetzen.

Schlussfolgerungen Die weiter genannten Kriterien können die MedN einer Methode weder begründen noch verändern. Ist eine Methode im Licht der 3 obligatorischen Kriterien nicht notwendig, dann wird sie es nicht durch die Erfüllung einzelner oder aller weiteren genannten. Ist sie andererseits schon medn, dann wird sie durch weitere Kriterien nicht „mehr oder weniger notwendig“. In Teil I haben wir MedN als dichotomes Konzept bestimmt. Dennoch sind wir überzeugt, dass nicht alle medn Methoden gleich wichtig sind. Wollte man innerhalb des MedN-Bereichs Methoden nach medizinischer Relevanz unterscheiden, könnte man auf Techniken zur Priorisierung in der medizinischen Versorgung zurückzugreifen.

Abstract

Objectives „Medical necessity“ (MedN) is a fuzzy term. Our project aims at concretising the concept between medical ethics, social law, and social medicine to support health care regulation, primarily within Germany’s statutory health insurance system. In Part I, we identified efficacy, (net)benefit, and the corresponding bodies of evidence as obligatory criteria of MedN. This is the second part suggesting and discussing further criteria.

Methods See Part I

Results (Part II): As further MedN-criteria we critically assessed a method’s effectiveness and acceptance in routine care, its potential beneficiaries, theoretical fundament, cost, and being without alternative as well as patients’ self-responsibility, cooperation, and preferences. Since MedN has both lower and upper bounds, we had to consider certain cases of mis- and overuse, due for instance to “indication creep” or “disease mongering”.

Conclusions The additional criteria neither establish MedN (when met singly or together) nor exclude it (when not met). If MedN is rejected in view of the 3 obligatory criteria then further information does not overturn the verdict. If a method is already assessed as being medn then further criteria do not make it “more or less necessary”. Though we advocated for a binary MedN-concept (Part I) we are nonetheless convinced that not all medical methods deemed medn are equally medically relevant. Respective differences within the range of MedN could be assessed by techniques to prioritise medical conditions, methods, and aims.

1 „Eine Unbedenklichkeitsprüfung bei einem Arzneimittel, das zur Anwendung bei Menschen bestimmt ist, ist jede Prüfung zu einem zugelassenen Arzneimittel, die durchgeführt wird, um ein Sicherheitsrisiko zu ermitteln, zu beschreiben oder zu quantifizieren, das Sicherheitsprofil eines Arzneimittels zu bestätigen oder die Effizienz von Risikomanagement-Maßnahmen zu messen“.


2 Der US-amerikanischen FDA mit mehreren solcher Verfahren (u. a. „fast track“) ist die European Medicines Agency (EMEA) mit ihrem PRIME-Verfahren (für PRIority MEdicines) gefolgt. Im Internet: https://www.ema.europa.eu/documents/leaflet/prime-paving-way-promising-medicines-patients-factsheet_en.pdf / Stand 9.11.2018.


3 Der Begriff ist hier ein terminus technicus. Das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) betreibt auf der Basis von §§ 303 a-e SGB V ein „Informationssystem Versorgungsdaten“. Mit einem Zeitabstand von 5 Jahren stellt es wissenschaftlichen Einrichtungen und anderen Berechtigten faktisch anonymisierte Diagnose- und Leistungsdaten von allen (!) GKV-Versicherten zur Auswertung zur Verfügung.


4 Der Begriff hat Eingang auch in das Sozialrecht gefunden. § 73b SGB V ist von „evidenzbasierten, praxiserprobten Leitlinien“ die Rede. „Praxiserprobt“ beinhaltet einen weiteren Anspruch, als dass etwas Eingang in die Versorgung oder dort Verbreitung oder Anerkennung gefunden bzw. zu finden habe.


5 Die intravenöse Gabe von 200 mg Propofol erzeugt bei praktisch allen so behandelten Erwachsenen unmittelbar einen Tiefschlaf.


6 Unklar bleibt bei diesem Einwand, worauf sich die Behauptung eines a priori höheren Wirksamkeitspotentials stützen kann: eine nicht gerade abwegige Theorie, ein Hauch von theoretischer Plausibilität, Tiermodelle und -versuche, individuelle Heilversuche, Praxiserfahrungen, erste Fallserien, Phase 2-Studien….?


7 Hier beispielhaft zitiert aus: Kernow CCG. Ethical framework for priority setting and resource allocation. Im Internet: https://www.kernowccg.nhs.uk / Stand 19.03.2018. CCGs sind für den Umfang und Inhalt des Leistungskatalogs der von ihnen zu versorgenden regionalen Populationen (hier Cornwall) verantwortlich


8 Die römische Medizin kannte zwischen Krankheit und Gesundheit einen Bereich der Neutralitas. Man war weder richtig gesund noch manifest krank (ne-utrum=weder noch). Wir rechnen allfällige und rasch vorübergehende Kopf- und Rückenschmerzen dazu


9 In den USA sind inzwischen zwei rezeptpflichtige Arzneimittel zur Steigerung der weiblichen Libido zugelassen.


10 Seit Jahren führt diese Bildgebung die Listen der in der Mehrzahl der Fälle für unnötig gehaltenen Leistungen an. Z.B.: The Good Stewardship Working Group [35]. Siehe auch die Choosing Wisely International Top 10 Recommendations; auch hier steht die Leistung auf dem ersten Platz. Im Internet: https://www.commonwealthfund.org/blog/2017/choosing-wisely-international-campaign-combat-overuse/ Stand 26.11.2018


11 Dieses diagnostische Beispiel ist entnommen aus: Morgan DJ et al. [36].


12 Zu jeweils neuestem Stand der Initiative siehe im Internet: http://www.choosingwisely.org / Stand 27.11.2018


13 Im Internet: https://leitlinien.dgk.org/files/2016_Pocket-Leitlinie_Vorhofflimmern.pdf / Präambel. Stand 28.11.2018.


14 Im Internet: https://leitlinien.dgk.org/files/2016_Pocket-Leitlinie_Vorhofflimmern.pdf / Präambel. Stand28.11.2018


15 Dichotome Skalen kennen nur zwei Zustände eines Merkmals und erfordern am Ende ja/nein-Entscheidungen; Ordinalskalen kennen mehr als zwei Zustände, die sie in eine Rangordnung bringen, wobei die Abstände zwischen den Rängen nicht oder nur approximativ identisch sind, anders als bei Intervall- und Ratioskalen