Z Sex Forsch 2019; 32(03): 131-147
DOI: 10.1055/a-0978-7137
Debatte
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wie viele Geschlechter gibt es und kann man sie wechseln?

How Many Sexes Are There and Is It Possible to Change Them?
Jorge Ponseti
Institut für Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
,
Aglaja Stirn
Institut für Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
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Publication Date:
05 September 2019 (online)

Zusammenfassung

Die Aufteilung des Menschen in zwei Geschlechter wurde in jüngerer Vergangenheit kritisiert, da es keine genaue Grenze zwischen beiden Geschlechtern gebe und weil die Vorstellung von der Existenz zweier Geschlechter selbst das Ergebnis eines sozialen Konstruktionsprozesses sei. Daher sei Geschlecht etwas, was eine Person nur für sich bestimmen könne, folglich Transsexualität/Geschlechtsdysphorie keine psychische Störung und die Ansprüche der Betroffenen nach selbstbestimmter Wahl geschlechtsangleichender Maßnahmen legitim.

In der vorliegenden Arbeit wird die klassische Auffassung der Zweigeschlechtlichkeit durch die Fortpflanzungsfunktion begründet. Die Unterschiedlichkeit von Samen- und Eizelle (Anisogamie) hat weitreichende Konsequenzen für die Lebenswirklichkeit des Menschen und begründet geschlechtstypische Verhaltensneigungen und Geschlechtsrollen. Der aktuelle Begriff Geschlechtsidentität wird kritisiert und einem anderen Identitätskonzept, das therapeutische Anknüpfungspunkte bietet, gegenübergestellt. Ferner wird erläutert, wie sich die Kritik am klassischen Geschlechtsbegriff nachteilig für die Sexualwissenschaft sowie auch für die Therapie geschlechtsdysphorischer Menschen auswirkt. Die Annahme, dass eine Psychotherapie der Geschlechtsdysphorie unethisch ist, wird diskutiert und den Ergebnissen neuerer Katamnesestudien gegenübergestellt. Unter Berücksichtigung neurowissenschaftlicher Studien werden Vorschläge für eine neue psychotherapeutische Strategie gemacht.

Abstract

The classical view of two sexes is nowadays criticized on the basis that there may be no clear boundary between the two sexes and because the perception of two genders may be socially constructed. In consequence, a person’s determination of their own gender, de-pathologizing of transgenderism and self-determined demands for sex reassignment surgery are regarded as legitimate. This paper justifies the conceptualizing of two sexes with regard to their reproductive functions. Anisogamy has far-reaching consequences for sex-dimorphic lived realities, behavioral tendencies, and gender roles. We criticize the current understanding of gender identity and suggest a concept of identity that offers starting points for psychotherapy. We further argue that a non-binary view of sex has negative consequences for sex research and for the treatment of gender dysphoria. Based on outcome and neuroscientific studies, we discuss whether the psychotherapeutic treatment of gender dysphoria is unethical, oppose this view with newer catamnesis studies, and offer suggestions for new treatment strategies.