Nervenheilkunde 2020; 39(03): 178-180
DOI: 10.1055/a-1016-2187
Kopfschmerz News
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Publication Date:
06 March 2020 (online)

Unterschiede zwischen hochfrequenter episodischer und chronischer Migräne

*** Chalmer MA, Hansen TH, Lebedeva ER, et al. Proposed new diagnostic criteria for chronic migraine. Cephalalgia 2019; DOI: 10.1177/0333102419877171

Die Schlussfolgerung der Autoren, dass es wenig Unterschiede zwischen hochfrequenter episodischer und chronischer Migräne gibt, stützt sich auf eine geringe Datenbasis. Diese Studie hat für einiges Aufsehen gesorgt, obwohl sie nicht endgültig in Cephalalgia publiziert ist. Allein schon, wenn man sich die Autorengruppe anschaut, wundert man sich, wie diese zustande gekommen ist.

Inhalt

Es geht um die Frage, ob die Kriterien der ICHD-3 für die chronische Migräne geändert werden sollten. Momentan werden die Patienten, die häufig Migräne, aber keine anderen Kopfschmerzen haben, nicht als chronische Migräne berücksichtigt, obwohl sie nach Ansicht der Autoren eine ähnlich hohe Behinderung („disability“) haben. Dazu haben die Autoren eine hochfrequente episodische Migräne (HFEM) definiert, d. h. Migräne an mehr als 8 Tagen im Monat bis zur Grenze von 15 Tagen. Dann wurden 4 Gruppen gewählt: klassische chronische Migräne aus einer dänischen Datenbank (n = 174); HFEM aus einer dänischen Datenbank (n = 176); klassische chronische Migräne aus einer russischen Datenbank (n = 17); HFEM aus einer russischen Datenbank (n = 19). Die Autoren haben folgende Zielparameter für die beiden dänischen Gruppen untersucht: demografische Daten; Attackenfrequenz; zahlreiche Komorbiditäten, Effekt von Triptanen; Menge der Triptane; Pensionierung; Kompensation für Krankheit; Rehabilitation; soziale Absicherung. Die einzigen signifikanten Unterschiede waren, dass Patienten mit einer chronischen Migräne früher pensioniert werden und insgesamt weniger Triptane einnehmen (bei gleicher Effektivität). Weiterhin fand sich kein Unterschied zwischen der dänischen und russischen Kohorte bezüglich des Verhältnisses von chronischer Migräne zu HFEM. Würde man die HFEM zur chronischen Migräne hinzuzählen, und dies schlagen die Autoren vor, würde sich die Prävalenz der chronischen Migräne in etwa verdoppeln.


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Kommentar

Mehrere Aspekte sollen hier kommentiert werden. Erst einmal scheint die Wahl der Kohorten sehr willkürlich und nicht repräsentativ. Warum wurde eine sehr kleine russische Kohorte zusätzlich gewählt? Eine befriedigende Antwort wird in der Publikation nicht gegeben. Warum wurde eine dänische Kohorte gewählt, die aus Patienten des dänischen Kopfschmerzzentrums und deren Verwandten besteht, d. h. hochgradig betroffene Patienten, die nicht repräsentativ für die dänische Bevölkerung sind? Unter den Autoren finden sich 2 Amerikaner, die an der Datenerhebung nicht beteiligt waren, aber als Vertreter einer Ausweitung der Kriterien für eine chronische Migräne auftreten. Dagegen ist der Seniorautor bislang immer als Kritiker des Konzepts der chronischen Migräne überhaupt aufgetreten.

Kritisch ist auch die Auswahl der Zielparameter. Es werden dichotome Variablen gewählt, die sich auf das dänische Sozialsystem beziehen. In Dänemark herrscht aber einer der höchsten Sozialstandards weltweit überhaupt. Das bedeutet, dass die Schwelle bis zu einer Pensionierung oder zu anderen sozialen Entschädigungsleistungen sehr niedrig und mit dem Rest der Welt (außer Skandinavien und vielleicht einige kleine arabische Länder) nicht verglichen werden kann. Weiterhin ist es statistisch problematisch, dass dichotome Variablen gewählt worden sind. Würde man die Variablen als stetige Größen einsetzen, kämen wahrscheinlich andere Ergebnisse zustande. Hier liegen Studien vor, die zeigen, dass sich bei stetigen Variablen in der Tat ein Unterschied zwischen chronischer Migräne ab 15 Kopfschmerztagen im Monat und hochfrequenter Migräne ergibt, dass also das aktuelle Konzept der chronischen Migräne doch zu einer sinnvollen Unterscheidung führt [1]. Schließlich muss die Frage gestellt werden, ob die Zielparameter wirklich den Behinderungsgrad durch Migräne abbilden. Erstaunlich ist, dass der MIDAS nicht eingesetzt worden ist, obwohl der „Erfinder“ des MIDAS unter den Autoren steht. Auch andere Variablen der Behinderung wir Depressions- und Angstskalen, HIT-6, PDI, SF-12/36 werden vermisst. Ob dagegen eine frühe Pensionierung im dänischen Rentensystem auch einer Behinderung gleichkommt, muss bezweifelt werden.

Zusammenfassend erscheint die Studie trotz der renommierten Autoren nicht geeignet, das Konzept der chronischen Migräne zu ändern. Es ist unstreitig, dass die Definition der chronischen Migräne teilweise willkürlich ist und möglicherweise verbessert werden kann. Dazu muss man sich aber erst einmal überlegen, was man mit einer revidierten Definition besser erfassen möchte (Behinderung, Leiden, Schmerz, ökonomische Faktoren, pathophysiologische Unterschiede?) und wem eine revidierte Definition (die nach dieser Studie auch noch zu einer Verdoppelung der diagnostisch Betroffenen führen würde) eigentlich nutzt.

Stefan Evers, Coppenbrügge


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