Aktuelle Urol 2020; 51(02): 114-115
DOI: 10.1055/a-1017-4887
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Kontroversen in der Kinder- und Jugendurologie

Controversies in pediatric and adolescent urology
Raimund Stein
Universitätsmedizin Mannheim, Zentrum für Kinder-, Jugend- und rekonstruktive Urologie, Mannheim
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
24. März 2020 (online)

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Interessierte,

in den letzten 50 Jahren haben sich in der Kinder- und Jugendurologie verschiedene „Schulen“ etabliert. So findet zwar auf Kongressen ein Austausch bzw. Diskurs statt; publizieren von vergleichbaren Ergebnissen ist schwierig und die Durchführung randomisierter Studien nahezu unmöglich. Allerdings lebt gerade die Kinder- und Jugendurologie von der Diskussion und dem Hinterfragen von Dogmata und eingefahrenen Behandlungspfaden. Die Leitlinien stellen ein gemeinsamer Konsensus von Experten auf dem neusten Stand der Wissenschaft – jedoch meist auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner – dar. In den letzten Jahren ist auch in diesem Fachgebiet ein zunehmender Trend von der Eminenz-basierten Diagnostik und Therapie zur mehr Evidenz-basierter Medizin zu beobachten.

In diesem Heft werden einige der Kontroversen in der Kinder- und Jugendurologie von verschiedenen Experten aus verschiedenen Schulen dargestellt und diskutiert. Teilweise lässt sich ein Konsensus erahnen, bei einigen Themen zeigt sich aber auch, wie unterschiedlich die vorhandene Datenlage aus dem jeweils eigenen Blickwinkel interpretiert werden kann.

Fängt man beim oberen Harntrakt an, so stellt die Nierenbeckenplastik die Therapie der Wahl bei der subpelvinen Stenose dar. Liegt jedoch „nur“ ein kreuzendes Gefäß als Ursache vor, so kann der Vascular Hitch ebenfalls eine Option darstellen. Diese Technik wird von dem Luzerner und dem Mannheimer Team sehr kontrovers anhand der Literatur und eigenen Erfahrungen dargestellt. Bei der Therapie des primären Megaureters in dem ersten Lebensjahr zeigen Herr Prof. Stehr und Dr. Schäfer aus Nürnberg und Frau Dr. Rübben und Herr PD Dr. Vester aus Duisburg unterschiedliche operative Therapieoptionen auf, die klar zeigen, dass es hier keinen „gold standard“ gibt.

Kommt man zum unteren Harntrakt, so wird aktuell die Diagnostik des Refluxes nach einer fieberhaften Harnwegsinfektion sehr kontrovers diskutiert. Herr PD Dr. Beetz aus Mainz bricht hier eine Lanze für das konventionelle MCU, Herr Dr. Waginger und Herr Prof. Menzel aus Jena für das MUS und Herr PD Dr. Haid aus Linz für die DMSA zur primären Diagnostik. Jeder hat gute und valide Argumente für das jeweilige Verfahren. Letztlich sollte die Technik der spezifischen Fragestellung angepasst werden. Ist eine operative Korrektur indiziert, stellt sich die Frage, wann man intervenieren sollte. Gerade im ersten Lebensjahr wird dies sehr kontrovers gesehen. So befürwortet Prof. Oswald aus Linz eine frühzeitige operative Intervention, während Herr Prof. Rösch aus Regensburg der frühzeitigen Intervention in der sich in der Entwicklung befindlichen Blase sehr kritisch gegenübersteht. Die „ideale“ operative Technik zur Therapie des bilateralen Refluxes wird von Frau PD Dr. Kranz und Prof. Steffens aus Eschweiler und Frau Prof. Ebert aus Ulm sehr unterschiedlich gesehen und dargestellt.

Bei den beiden am häufigsten vorkommenden „Anomalien“ des äußeren Genitale – dem Hodenhochstand und der Varikozele – ist trotz der großen Anzahl von Patienten die Studienlage bzgl. der optimalen Behandlung nur sehr ungenügend. Es gibt wenige randomisierte Studien und Metaanalysen, und diese haben teils recht widersprüchlichen bzw. uneindeutigen Schlussfolgerungen.

Die Hormontherapie beim primären Hodenhochstand wird von Frau PD Dr. Schröder aus Mainz und Herrn Dr. Reschke aus Hannover sehr kontrovers gesehen. Die sehr unterschiedliche Meinung wird teils sehr fundiert begründet. Bei der operativen Therapie des Hodenhochstandes wird der Zugangsweg ebenfalls kontrovers gesehen. Während Frau Dr. Younsi aus Mannheim ein Plädoyer für den skrotalen Zugang beim behandlungsbedürftigen Gleit- und tiefen Leistenhoden hält, favorisieren Frau Dr. Riechardt und Frau Prof. Fisch den inguinalen Zugangsweg. Last but not least wird die Therapie der Varikozele im Jugendalter trotz einer sehr umfangreichen Metaanalyse weiter diskutiert werden. Die Standpunkte von Frau Prof. Kliesch aus Münster und dem Mannheimer Team sind nicht so kontrovers wie die vorangegangenen Themengebiete und lassen einen Konsensus erahnen.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen der 17 teils sehr unterschiedlichen Artikel. Diese sollen Sie zum Nachdenken bzw. Hinterfragen der eigenen Praxis anregen. Sie zeigen aber auch, dass es in der Kinder- und Jugendurologie nicht „den goldenen Standard“ gibt, sondern auch mehrere Wege zum Ziel führen können. In den nächsten 10-20 Jahren wird es auch in der Kinder- und Jugendurologie zu mehr Evidenz und hoffentlich weniger Eminenz kommen; wir werden auf besser dokumentierte Langzeitergebnisse zurückblicken können und mit zunehmend besser durchgeführte Studien einige der aufgeworfenen Fragestellungen besser beantworten können.

Prof. Dr. Raimund Stein