Diabetes aktuell 2019; 17(07): 251
DOI: 10.1055/a-1022-9300
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Diabetes in der Wüste

Antje Bergmann
1   Dresden
,
Peter E.H. Schwarz
2   Dresden
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
26. November 2019 (online)

Vielfach wird heute über die hohe Diabetesprävalenz in Deutschland und Europa gesprochen – dabei lohnt es sich, einmal über den Tellerrand hinauszuschauen. Bewegt man sich in Richtung der Golfstaaten, erleben wir ein vollkommen anderes Bild. In Saudi-Arabien wird heutzutage die offizielle Diabetesprävalenz mit 31 % angegeben, inoffiziell spricht man von über 40 %. Studien aus Saudi-Arabien sagen eine Diabetesprävalenz von sogar 56 % im Jahr 2030 voraus. Ein Land mit 40 Millionen Einwohnern und einer so hohen Diabetesprävalenz ist für das Gesundheitssystem eine Katastrophe, aber natürlich auch lehrreich, um die Erkrankung besser zu verstehen. Wie kommt es zu dieser hohen Prävalenz? Vor 50 Jahren war die Diabetesprävalenz deutlich niedriger als in Deutschland. Ist das die Lebensstiländerung in Saudi-Arabien gewesen? Spielen genetische Ursachen eine Rolle? Wir wissen es nicht.

Ich hatte kürzlich die Chance, in verschiedenen Golfstaaten Diabetologen auszubilden und wir haben über dieses Thema viel diskutiert. Komplizierter wird es noch, wenn man Saudi-Arabien mit Qatar, Bahrain und den Emiraten vergleicht – hier ist die Situation auch vor dem kulturellen und genetischen Hintergrund sehr ähnlich. Im Iran aber ist die Situation wieder ganz anders. Dort leben 80 Millionen Menschen und die Diabetesprävalenz liegt bei etwa 7 %. Wie ist es möglich, dass es – nur durch eine Landesgrenze getrennt – so starke Unterschiede hinsichtlich der Prävalenz gibt?

Verblüffend war für mich zu erleben, dass in Saudi-Arabien in den letzten 5 Jahren mehr als 400 Diabeteskliniken gebaut wurden. Diese Kliniken sind gut konzipiert und beinhalten Patientenpfade, welche zum Teil besser aufgesetzt zu sein scheinen als hierzulande. Jeder Diabetespatient wird von einem Zahnarzt 1-mal im Jahr untersucht und 2-mal von einem Psychologen visitiert. Davon ist man in Deutschland in der Regel weit entfernt. Auf der anderen Seite ergaben sich in der Diskussion mit den Kollegen nicht nur aus unserer westlich geprägten Sichtweise starke Defizite hinsichtlich der professionellen Ausbildung im Diabetesbereich (Sulfonylharnstoffe sind immer noch die am meisten verschriebenen Medikamente). Allerdings besteht auch ein hohes Bewusstsein für die Problematik hinsichtlich der Stoffwechselerkrankung.

Schulungsprogramme, so wie wir sie in Deutschland kennen, gibt es in der arabischen Welt bislang kaum. Allerdings wandelt sich dieses Bild in unterschiedlichen Ländern. In Kuwait und Bahrain gibt es etablierte Diabetes-Nurses, die ein sehr starkes Standing bei den Patienten haben und bedeutungsvoller sind als die Diabetologen. In Saudi-Arabien dagegen spielt eine Diabetesschulung so gut wie keine Rolle. Interessant war ebenfalls zu erleben, dass starke bestehende kulturelle Differenzen und religiöse Verhaltensweisen in der medizinischen Behandlung kaum eine Rolle gespielt haben.

Hat man das im Kopf, leben wir eigentlich in einem Luxusumfeld im Hinblick auf die Diabetesbehandlung. Wir haben alle Medikamente zur Verfügung, wir können aus dem Vollen schöpfen im Hinblick auf Diabetesschulung. Wir leben eine Phase, in der die Digitalisierung hilft, die Therapie und Schulung deutlich zu verbessern. Patienten in Deutschland sind sehr gut behandelt – und haben fast keine Chance, sich der Behandlung zu entziehen. Für dieses Umfeld können wir dankbar sein.

Die Situation in den arabischen Ländern bietet aber auch enorme Chancen. Die rasante Zunahme von Diabetespatienten erhöht auch den Bedarf für eine gute Diabetestherapie in den Ländern drastisch. Viele gute Konzepte aus europäischen oder asiatischen Ländern können dort zum Tragen kommen. Es besteht eine Aufbruchsituation, die vielleicht mit der Situation in Deutschland vor 40 Jahren vergleichbar ist, als Diabetesschulungen eingeführt wurden. Wir können da sicherlich viel helfen, aber wir können auch viel lernen, weil – wenn man ehrlich ist – die Herausforderung bei einer Prävalenz von 56 % Diabetes deutlich größer ist als das, was wir je in Deutschland zu bewältigen hatten.