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DOI: 10.1055/a-1078-9792
„Eine Charta für Corona?“: 10 Jahre Charta in Deutschland – gerade in dieser Zeit so aktuell wie nie!
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
29. April 2020 (online)
Liebe Leserin, lieber Leser,
als vor 13 Jahren die Idee einer „Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland“ entstand, hat keiner von uns geahnt, dass Krankheit, Sterben und Tod einmal zu einem die Öffentlichkeit und auch uns selbst so beherrschenden Gesprächs- und Medienthema werden könnten, wie dies jetzt durch die Corona-Krise der Fall ist. Die letzten Wochen haben unser Leben in einer Weise verändert, wie es sich kaum jemand bisher vorstellen konnte, wie wir es noch nie erlebt haben. Die Bedrohung durch das Covid-19-Virus geht uns alle an, auch wir, unsere Angehörigen, unsere Liebsten, Freunde, könnten betroffen sein. Und doch war es ein Anliegen der Charta, die Diskussion zu diesen Themen in die Öffentlichkeit zu tragen: Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit, mit Erkrankung und Versterben Nahestehender, humanes Miteinander und Nachbarschaft, „Letztverlässlichkeit“ der Versorgungsstrukturen in der Betreuung am Lebensende, „Zugangsgerechtigkeit“ für alle Betroffenen und Bedürftigen, keine Diskriminierung bestimmter Gruppen, Qualitätssicherung auch in schwierigen Zeiten, Abschiednehmen und Trauer, … wesentliche Themen der Charta, die heute besonders aktuell sind und uns verdeutlichen, wie wichtig hospizlich-palliatives Handeln gerade in Zeiten einer solchen Krise geworden ist und wie sehr dies benötigt wird.
Geboren wurde die Idee, die zunächst nur eine „Charta zur Palliativversorgung“ vorsah, im Jahr 2007 auf dem 10. Kongress der European Association for Palliative Care (EAPC) in Budapest im Rahmen einer internationalen Initiative, die als Budapest Commitments bekannt geworden sind. In einem ersten Brainstorming schrieben wir (Christof Müller Busch, Friedemann Nauck und Raymond Voltz) ein erstes Konzept für eine Charta. Wenn wir gewusst hätten, was uns damit erwartet, hätten wir diese Initiative vielleicht nicht ergriffen. Klar war uns, dass wir Trägerorganisationen benötigen, und wir sind dankbar, dass wir die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP), den Deutscher Hospiz- und PalliativVerband (DHPV) und die Bundesärztekammer (BÄK) gewinnen konnten. Als Förderer unterstützten uns die Robert Bosch Stiftung, die Deutsche Krebshilfe sowie bis heute das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ).
Die „Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland“ ist der allgemein anerkannte Leitfaden des hospizlich-palliativen Handelns und des Commitments geworden, wobei der Charta-Prozess zur Entwicklung der Leitsätze einer der größten Bottom-up-Prozesse in der Gesundheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland wurde. Nach zwei Jahren intensiver Vorbereitung mit rund 200 Expert/-innen aus 50 gesellschaftlich und gesundheitspolitisch relevanten Institutionen wurde im Herbst 2010 die Charta nach Konsentierung verabschiedet und der Öffentlichkeit vorgestellt.
Aus der „Charta“ ist eine umfassende – und alle gesellschaftlichen Bereiche berührende – nationale Strategie entstanden, mit dem Ziel, die Wahrung der Würde eines jeden Menschen in der letzten Lebensphase im gesellschaftlichen und politischen Bewusstsein zu verankern und ein Sterben unter menschenwürdigen Bedingungen zu ermöglichen. Trotz aller Anstrengungen die Covid-Gefahr zu besiegen, berührt die Krise in besonderer Weise die von der Charta dazu entwickelten Prinzipien.
Vor dem Hintergrund der dramatischen Erfahrungen im Umgang mit Sterben und Tod in der derzeitigen Krise, bekommen die fünf Leitsätze der Charta eine besondere Aktualität. Wir möchten an einige wichtige Sätze erinnern.
Im Leitsatz 1 Gesellschaftliche Herausforderungen – Ethik, Recht und öffentliche Kommunikation heißt es:
„Jeder Mensch hat ein Recht auf ein Sterben unter würdigen Bedingungen. Er muss darauf vertrauen können, dass er in seiner letzten Lebensphase mit seinen Vorstellungen, Wünschen und Werten respektiert wird und dass Entscheidungen unter Achtung seines Willens getroffen werden. […]“ Hier wurde der Begriff der „Letztverlässlichkeit“ geprägt.
Einen entscheidenden Einfluss haben gesellschaftliche Wertvorstellungen und soziale Gegebenheiten, die sich auch in juristischen Regelungen widerspiegeln.
Der Leitsatz 2 Bedürfnisse der Betroffenen – Anforderungen an die Versorgungsstrukturen geht explizit auf die Bedürfnisse der Betroffenen ein:
„Jeder schwerstkranke und sterbende Mensch hat ein Recht auf eine umfassende medizinische, pflegerische, psychosoziale und spirituelle Betreuung und Begleitung, die seiner individuellen Lebenssituation und seinem hospizlich-palliativen Versorgungsbedarf Rechnung trägt. […]
Die Betreuung erfolgt durch haupt- und ehrenamtlich Tätige.
Der Leitsatz 3 beinhaltet die Anforderungen an die Aus-, Weiter- und Fortbildung:
„Jeder schwerstkranke und sterbende Mensch hat ein Recht auf eine angemessene, qualifizierte und bei Bedarf multiprofessionelle Behandlung und Begleitung. Die in der Palliativversorgung Tätigen müssen die Möglichkeit haben, sich weiter zu qualifizieren […].
Im Leitsatz 4 geht es um die Zukunft, die „Entwicklungsperspektiven und Forschung“:
„Jeder schwerstkranke und sterbende Mensch hat ein Recht darauf, nach dem allgemein anerkannten Stand der Erkenntnisse behandelt und betreut zu werden.
Neue Erkenntnisse zur Palliativversorgung werden aus Forschung und Praxis gewonnen, transparent gemacht und im Versorgungsalltag umgesetzt.“
Der letzte Leitsatz 5 beleuchtet die „Die europäische und internationale Dimension“:
„Jeder schwerstkranke und sterbende Mensch hat ein Recht darauf, dass etablierte und anerkannte internationale Empfehlungen und Standards zur Palliativversorgung zu seinem Wohl angemessen berücksichtigt werden.“
Konkrete Handlungsempfehlungen zu den in den Leitsätzen formulierten Zielen wurden seit 2013 entwickelt. Ein wichtiger Schritt für deren Umsetzung war die Einrichtung der „Koordinierungsstelle für Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland“ im Jahre 2016, finanziert durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Sie dient dem Bestreben, die Charta und die Handlungsempfehlungen im Rahmen einer Nationalen Strategie noch stärker und konsequenter in das öffentliche Bewusstsein zu bringen. Inzwischen haben mehr als 25 000 Personen und über 2000 Organisationen durch Zeichnung der Charta dokumentiert, sich für deren Ziele einzusetzen.
Eine Charta also für Corona-Zeiten? Wir denken: Ja! Letztverlässlichkeit, Sterben unter menschenwürdigen Bedingungen, Abschied und angemessenes Trauern muss auch im Kampf, die Pandemie zu beherrschen, gewährleistet werden.
Christof Müller-Busch
Friedemann Nauck
Raymond Voltz