Fortschr Neurol Psychiatr 2020; 88(07): 428-429
DOI: 10.1055/a-1130-7311
Editorial

Neurologische Frührehabilitation 2020

German neurological early rehabilitation in 2020
Claus-W. Wallesch

Die neurologische Frührehabilitation der Phase B ist mit über 6.000 akutstationären Betten und über 1000 Weaning-Plätzen ein bedeutender Subsektor im deutschen Krankenhaussystem geworden. Sie sichert die Weiterbehandlung von Patienten der Intensiv- und Intermediate-Care-Stationen sowie der Stroke Units der Akutkrankenhäuser, sobald akutmedizinische Interventionen abgeschlossen sind. Dabei kommen nicht nur Patienten mit neurologisch-neurochirurgischen Grunderkrankungen, sondern auch solche mit neurologischen Komplikationen und Komorbiditäten (hypoxische und septische Encephalopathie, Critical-Illnesss-Neuropathie und –Myopathie) zur Aufnahme [1].

Das Jahr 2020 brachte einschneidende Veränderungen für die deutsche Krankenhauslandschaft. Mit Jahresbeginn wurde das DRG-System grundlegend verändert. Die Pflegekosten wurden aus den bewerteten DRGs herausgerechnet und sollen separat vergütet werden. Dafür enthält der DRG-Katalog je DRG eine „Pflegeerlös-Bewertungsrelation/Tag“, für die in den Budgetverhandlungen ein klinikindividueller, dem tatsächlichen Pflegeaufwand entsprechender Multiplikator festgelegt werden soll. Die Budgetverhandlungen finden üblicherweise in der zweiten Jahreshälfte statt. Bis dahin wurde für die laufenden Abrechnungen der Pflegeentgeltwert auf € 146,55 festgesetzt. Dieser Betrag ist angesichts der hohen Pflegeintensität für die neurologische Frührehabilitation zu niedrig, es drohten Liquiditätsengpässe. Das COVID-19 Krankenhausentlastungsgesetz hob zum 01.04.2020 den Pflegeentgeltwert auf € 185.- an, was zumindest eine Verbesserung darstellte. Das neue aG-DRG-System (das „a“ steht für „ausgegliedert“) stellt einen gravierenden Systembruch dar, da die erhofften Effizienzsteigerungen des DRG-Systems jetzt nur noch die übrigen Kosten (übriges Personal, Sachkosten, Investitionskosten) betreffen. Sollten nicht auch Kosten für das ärztliche, therapeutische und weitere Personal ausgegliedert werden? Was bliebe dann übrig?

Ebenfalls zum Jahresbeginn 2020 wurden für die neurologische Frührehabilitation Pflegepersonaluntergrenzen eingeführt. Die Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung (PpUGV) fokussiert einseitig auf dreijährig ausgebildete Pflegekräfte am Bett. Sie gibt für die neurologische Frührehabilitation Pflegepersonalschlüssel von 5 Patienten je Pflegekraft in der Früh- und Spätschicht und 12:1 in der Nachtschicht vor. Pflegehilfskräfte können in der Tagschicht zu 10% und in der Nachtschicht zu 8% angerechnet werden. Die Deutsche Gesellschaft für NeuroRehabilitation hat in einer Stellungnahme zu den Pflegepersonaluntergrenzen auf folgende gravierende Probleme für die neurologische Frührehabilitation hingewiesen [2]:

  1. Innerhalb der Kliniken besteht eine ausgeprägte Spezialisierung und Binnendifferenzierung der Stationen. Es finden sich unterschiedliche Stationssettings für z.B. für die prolongierte Entwöhnung von maschineller Beatmung (Weaning), das Trachealkanülenmanagement mit Dekanülierungsziel oder die Frührehabilitation mobiler Verwirrter mit unterschiedlichen Pflege- und Therapiebedarfen.

  2. Die Indikatoren-DRGs der PpUGV erfordern zwingen die Erbringung der OPS 8-552. In dieser ist aber der zeitliche Umfang der Patientenversorgung (durchschnittlich 300min/Tag) bereits explizit vorgegeben. Die PpUGV berücksichtigt jedoch nur die Pflege und wird so der neurologischen Frührehabilitation, in der die OPS 8-552 die interdisziplinäre Kooperation explizit einfordert, nicht gerecht. Dabei zu berücksichtigen ist, dass die direkte Versorgung der Patienten „am Krankenbett“ durch die OPS 8-552 interprofessionell bereits zeitlich intensiver vorgegeben ist als dies durch die PpUGV (monoprofessionell) festgelegt ist.

  3. Größere Abteilungen der neurologischen Frührehabilitation arbeiten mit einem Qualifikationsmix in der Pflege unter Einbeziehung besonders geschulter einjährig Qualifizierter, wie er auch pflegewissenschaftlich gefordert wird [3]. Die DGNR sieht keine Gründe, diese bewährte Organisationsform aufzulösen.

Vor dem Hintergrund der Corona-Krise wurden die Pflegepersonaluntergrenzen vom 01.03.bis 31.12.2020 vorübergehend ausgesetzt. Es ist zu hoffen, dass bis dahin adäquatere und flexiblere Methoden der Pflegepersonalbemessung implementiert werden (z.B. das von Krankenhausgesellschaft und ver.di entwickelte Instrument PPR 2.0 [4]), es ist zu befürchten, dass dies nicht geschieht.

In den letzten Jahren sind die Vergütungen für Weaning-Patienten, die nicht auf interventionellen Intensivstationen (OPS 8-980: Intensivmedizinische Komplexbehandlung) behandelt werden, im DRG-System stetig gesunken, was vor allem die neurologische Frührehabilitation und pneumologische Weaningstationen betrifft. Hier ist für das nächste Jahr die Einführung einer OPS 8-71a „Prolongierte Beatmungsentwöhnung (Weaning) bei maschineller Beatmung“ geplant, die allerdings erst 2013 erlöswirksame Folgen haben wird. Bis dahin wird es eine „Durststrecke“ für das Weaning in der neurologischen Frührehabilitation geben.

Mitte März wurden bundesweit Corona-Verordnungen erlassen, die für Krankenhäuser und Rehabilitationseinrichtungen weitreichende Folgen hatten. Die Belegung von Einrichtungen der medizinischen und beruflichen Rehabilitation ist eingebrochen, vielerorts kam es zu Kurzarbeit. Die Phase-B-Einrichtungen waren hingegen kaum betroffen. Der Wegfall von Patienten, die nach elektiven kardiochirurgischen Eingriffen einer Frührehabilitation bedürfen, wurde durch Post-Coronainfektionspatienten, vor allem weiterhin beatmungspflichtige, häufig mehr als ausgeglichen. Durch die Aussetzung der PpUGV konnten Behandlungskapazitäten der Frührehabilitation ausgeweitet werden.

Große Probleme bereiteten die erlassenen Besuchsverbote, die die oft über Monate behandelten Patienten und ihre Angehörigen schwer belasteten. Ähnlich wie in Pflegeheimen wurde versucht, Kontakte über Videotelefonie zu ermöglichen, soweit die Patienten dazu in der Lage waren oder dies in die Therapien integriert werden konnte.

Die jetzt erfolgende Lockerung der Besuchsverbote stellt die neurologische Frührehabilitation erneut vor Herausforderungen. Das Recht jedes Patienten pro Tag einen Besucher zu empfangen, muss mit Stationsabläufen und den Erfordernissen der Therapien (Patienten müssen unter der OPS 8-552 „neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation“ im Durchschnitt 300 Minuten Therapien am Tag erhalten) koordiniert werden. Nach einem ersten Ansturm von Besuchern ist jedoch zu hoffen, dass sich die oft mit Verzweiflung verbundene psychosoziale Isolation der Patienten entscheidend verbessert.

Stand 18.05.2020



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
27. Juli 2020

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