Fortschr Neurol Psychiatr 2020; 88(12): 756-758
DOI: 10.1055/a-1130-8059
Editorial

Personalisierte oder stratifizierte „Precision“-Psychiatrie?

Personalized or stratified “Precision” psychiatry?
Wolfgang Gaebel
,
Peter Falkai

Das Anliegen der Medizin, Erkrankungen aus Merkmalen am Kranken zu erkennen und darauf abgestimmt individuell gezielt zu behandeln, geht bereits auf ihre Ursprünge zurück. Die Humoralpathologie, als Krankheitslehre von den „Körpersäften“ und ihrer Zusammensetzung und Mischung als Grundlage für Gesundheit und Krankheit, reicht in vorchristliche Jahrhunderte zurück. Mit Namen wie Empedokles, Hippokrates, Galen und Avicenna verbunden, reichte ihre Rezeption bis ins 18. Jahrhundert. Mit Aufkommen der Zellularpathologie (Virchow) und den Entwicklungen in Physiologie und Medizin, verlor sie im 19. Jahrhundert an Einfluss. Wissenschaftshistorische Bedeutung und konzeptueller Grundgedanke haben auch in modernen Entwicklungen und Zielsetzungen weiter Bestand.

Das Motto „The right drug for the right patient at the right time“, mit dem 2007 bereits eine (multidisziplinäre) „Personalized Medicine Coalition“ gegründet wurde [1], zeugt von dem Grundgedanken einer „personalisierten“ Medizin, der in allen Disziplinen der Medizin, so auch in der Psychiatrie Platz gegriffen hat. Snyderman [2] begründet diese Entwicklung mit der Krise der Gesundheitsversorgung, die zu teuer und ineffizient sei, da sie „reaktiv“ und mit interindividuell undifferenzierten Therapiemethoden („one-size-fits-all“) erst in späten Krankheitsstadien interveniere, anstatt „personalisiert, prädiktiv, präventiv und partizipatorisch“ vorzugehen. Das Neue eines „personalisierten“ Vorgehens in der Medizin trotz immer schon erforderlichen „individualisierten“ Behandelns aufgrund unterschiedlicher therapeutischer Ansprechraten einzelner Patienten, gründet auf der Überzeugung, im Rahmen der wissenschaftlich-technologischen Entwicklung mit passgenaueren Therapien und Vorhersagemethoden Response und Responseprädiktion zu verbessern und damit wirkungslose und nebenwirkungsreichere Therapien zu vermeiden [3]. Wesentliche Triebfedern für diese Einschätzung waren die Entschlüsselung des menschlichen Genoms (2003) und der Fortschritt in der Pharmakogenomik mit Genotypisierung pharmakometabolisierender Enzyme sowie insgesamt die Entwicklung in der molekularen Medizin, wie Proteomik, Metabolomik oder Epigenomik.

Aufgrund der inhaltlichen Überlappung der für diese Entwicklung benutzten Bezeichnungen (personalisiert, individualisiert, stratifiziert), wurde vorgeschlagen, sich auf die Bezeichnung „precision medicine“ (Präzisionsmedizin) zu einigen [4]. Bereits 2011 hatte das US National Research Council empfohlen [5], die Bezeichnung „personalized medicine“ zugunsten von „precision medicine“ aufgrund ihrer Anfälligkeit für Fehlinterpretationen aufzugeben. Es handele sich hierbei nicht um eine für jeden einzelnen Patienten individuelle Therapie, sondern um eine „Klassifikation von Individuen in Subpopulationen, die sich in ihrer Suszeptibilität gegenüber einer bestimmten Erkrankung oder in ihrem spezifischen Therapieansprechen unterscheiden“. „Präzision“ bedeute in diesem Kontext sowohl „präzise“ als auch „akkurat“. Im gleichen Jahr haben in den USA die NIH – von Präsident Obama angekündigt – eine „Precision Medicine Initiative (PMI)“ zusammen mit anderen Forschungszentren gegründet, mit dem Ziel, Präzisionsmedizin zunächst in der Krebsforschung sowie in großem Maßstab im Gesundheitswesen der USA einzuführen [6]. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen ist die Popularität des Suchbegriffs „precision medicine“ über die des in den Vorjahren prävalierenden Suchbegriffs „personalized medicine“ in akademischen Literaturrecherchen angestiegen [7]. Die PMI definiert „precision medicine“ als „emerging approach for disease treatment and prevention that takes into account individual variability in genes, environment, and lifestyle for each person“. Zu Rechtsfragen einer Personalisierten Medizin und ihrer bevorzugten Bezeichnung als “Stratifizierende Medizin” siehe Wienke, 2013 [8].

Gegenüber Konzepten, wie dem einer „Person-Centered Psychiatry“ [9], [10], die eher die „Totalität der Person“ und deren zentrale Bedeutung für einen integrativen, holistischen Zugang in Gesundheit und Krankheit in den Vordergrund stellen und auf die Gefahren von Reduktionismus, Dehumanisierung und Fraktionierung moderner Medizin hinweisen, grenzt sich das Konzept „precision medicine“ ab. Es kritisiert zwar auch die gegenwärtige medizinische Praxis mit ihren an diagnostisch stratifizierten Patientengruppen und Forschungskriterien evidenzbasiert gewonnenen Therapien ohne systematische Berücksichtigung der interindividuellen Variabilität, und setzt eben deswegen auf das Potential moderner medizinischer Technologien im Einsatz für Prävention, Diagnostik und Therapie. Allerdings ist auch die Praxis einer „Qualitätsmedizin“ personalisierten Prinzipien verpflichtet, indem Patienten unter Berücksichtigung ihrer je eigenen „biopsychosozialen“ Merkmale, wie Diagnose, differenzierte Psychopathologie, Alter, Geschlecht, Biomarker, Lebens- und Krankheitsgeschichte, Therapieerwartungen und -reaktionen, Coping, etc. tatsächlich „individuell“ behandelt werden sollten [11].

Psychische Störungen sind komplex, sie werden klinisch diagnostiziert und klassifiziert auf Basis psychopathologischer Syndrome, die mittels diagnostischer Kriterien (DSM-5) bzw. Leitlinien (ICD-11) der aktuellen Klassifikationssysteme erfasst werden. Die Vielzahl genetischer, neurobiologischer und anderer personenbezogener Daten überlappen zwischen verschiedenen Störungen und haben bisher nicht zu einem kohärenten Bild separater Entitäten oder einer klinisch validen Erweiterung diagnostischer Systeme beigetragen. Insofern sind eine Reihe neuer Forschungsansätze propagiert worden [12], wie die NIMH RDoC Initiative, die an der Entwicklung eines biologisch fundierten Rahmenkonzepts zum Verständnis psychischer Störungen arbeitet, oder der Ansatz einer „reversen Nosologie“, mit dem im transdiagnostischen Vorgehen Zusammenhänge zwischen psychopathologischen, molekularen und zellulären Merkmalen sowie neuronalen Schaltkreisen neu definiert werden. Auf der anderen Seite stehen Ansätze zu einer ‚Hierarchical Taxonomy of Psychopathology‘ (HiTOP) sowie zu einem ‚General psychopathological factor‘, die eher einem rekonstruktiven als einem dekonstruktiven Ansatz folgen. In diesen Bemühungen begegnen sich neue nosologische Konzepte mit Konzepten einer precision psychiatry, wobei die methodischen Gemeinsamkeiten mehr im ‚splitting‘ als im ‚lumping‘ liegen dürften [4], deren Ziel es ist, gemeinsame Merkmalssignaturen für Störungs- und Therapiekonzepte aufzudecken und translational in die Praxis umzusetzen.

Vielen Ansätzen aus dem Bereich der „precision psychiatry“ ist gemein, dass sie moderne maschinelle Lernverfahren, sogenanntes „machine learning“, verwenden, um komplexe Datensätze mit unterschiedlichen Modalitäten wie klinischen Ratingskalen, MRT-Daten, Epi- /Genetik und Metabolomik zu integrieren. Das Ziel ist hierbei, Krankheitsmuster in möglichst umfassender und damit gleichsam präziser Weise zu erfassen, sodass mit ihrer Hilfe eine biopsychologische Stratifizierung der einzelnen Patienten möglich wird [13]. Daher ist der Begriff der „precision psychiatry“ eng mit den informationstechnologischen Fortschritten im Bereich der künstlichen Intelligenz bzw. des „machine learning“ verknüpft [14].

Mit Blick auf die Notwendigkeit einer Bewältigung der Komplexität psychischer Erkrankungen in Prävention, Diagnostik und Therapie, hat das Konzept einer personalisierten oder „precision“ Medizin zunehmend auch in der Psychiatrie Platz gegriffen – Perna & Nemeroff [15] haben als Herausgeber ihrer Zeitschrift „Personalized medicine in psychiatry“ ein Editorial gleichen Namens mit dem Zusatz „Back to the Future“ verfasst. Perna et al. verfassten 2018 [16] einen Beitrag in Psychological Medicine „The revolution of personalized psychiatry: will technology make it happen sooner?“– die Terminologie wird weiterhin nicht einheitlich verwendet, Begründungen dafür auch in diesem Heft. Derweil wird aber zunehmend intensiv geforscht, wovon auch die Beiträge in diesem Heft beispielhaft Zeugnis ablegen. 2019 fand in Berlin die 7th European Conference on Schizophrenia unter dem Motto ‚Schizophrenia and other psychotic disorders: Time for Precision Medicine?‘ statt [17], an deren Plenarveranstaltungen die Autoren Giampaolo Perna und Silvana Galderisi aktiv teilgenommen haben.

Die ersten 3 Artikel im vorliegenden Schwerpunktheft befassen sich mit Aspekten der terminologischen und inhaltlichen Klarstellung: G. Perna et al. nehmen zur Frage ‚Precision‘ or ‚personalized‘ psychiatry: different terms – same content? Stellung. G. M. Giordano et al. problematisieren die Stellung der beiden Konzepte zueinander in ihrem Beitrag ‚Precision psychiatry‘ needs to become part of ‚personalized psychiatry‘. F. Schultze-Lutter & A. Theoridou befassen sich mit der Frage „Welche Rolle spielen Nosologie und Psychopathologie in der ‚Precision‘-Psychiatrie?“

Die weiteren beiden Beiträge geben Einblick in den wissenschaftlichen Forschungsstand aus verschiedenen Perspektiven: D. Popovic, K. Schiltz, P. Falkai, N. Koutsouleris exemplifizieren den Ansatz in Richtung „‚Precision‘-Psychiatrie und der Beitrag von Brain Imaging und anderen Biomarkern“. N. R. Winter & T. Hahn stellen schließlich die für die Praxis relevante Frage: „‘Big data‘, KI und Maschinenlernen auf dem Weg zur ‚Precision‘-Psychiatrie – wie verändern sie den therapeutischen Alltag?“



Publication History

Article published online:
11 December 2020

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  • Literatur

  • 1 Abrahams E. Right Drug - Right Patient - Right Time: Personalized Medicine Coalition. Clin Trans Sci. 2008; 1 (01) : 11-12
  • 2 Snyderman R. The case of personalized medicine. 4th edition,. 2014. www.personalizedmedicinecoalition.org
  • 3 Hamburg MA, Collins FS. The path to personalized medicine. N Engl J Med. 2010; 363 (04) : 301-304
  • 4 Jameson JL. Longo DL. Precision Medicine – Personalized, Problematic, and Promising. N Engl J Med. 2015; 372 (23) : 2229-34
  • 5 Committee on a Framework for Development of a New Taxonomy of Disease, National Research Council (2011) Toward Precision Medicine: Building a Knowledge Network for Biomedical Research and a New Taxonomy of Disease. Washington, DC: The National Academies Press; 2011. https://doi.org/10.17226/13284 .
  • 6 Ashley EA. The Precision Medicine Initiative - A New National Effort. JAMA. 2015; 313 (21) : 2119-2120.
  • 7 https://healthitanalytics.com/images/site/features/_large/precision_v_personal.jpg
  • 8 Wienke A. Einbecker Empfehlungen der DGMR zu Rechtsfragen der personalisierten Medizin: 15. Einbecker Workshop der DGMR im April 2013. GMS Mitt AWMF. 2013 10. Doc6.
  • 9 Mezzich JE, Botbol M, Christodoulou GN, Cloninger CR, Salloum IM. (editors). Person Centred Psychiatry. Springer International Publishing Switzerland,. 2016
  • 10 Gaebel W, Zielasek J. Schizophrenia and Related Disorders. In. 9. pp 345-361
  • 11 Maj M, Stein DJ, Parker G. et al. The clinical characterization of the adult patient with depression aimed at personalization of treatment. World Psychiatry 2020; 19: 269-293
  • 12 Gaebel M, Stricker J, Kerst A. Changes from ICD-10 to ICD-11 and future directions in psychiatric classification. Dialogues in clinical neuroscience 2020; 22 (01) : 7-15
  • 13 Dwyer DB, Falkai P, Koutsouleris N. Machine Learning Approaches for Clinical Psychology and Psychiatry. Annu Rev Clin Psychol. 2018; 14: 91-118.
  • 14 Bzdok D, Meyer-Lindenberg A. Machine Learning for Precision Psychiatry: Opportunities and Challenges. Biol Psychiatry Cogn Neurosci Neuroimaging. 2018; 3: 223-230
  • 15 Perna G, Nemeroff CB. Personalized Medicine in Psychiatry: Back to the Future. Personalized medicine in psychiatry. 2017: 1-2:1.
  • 16 Perna G, Grassi M, Caldirola D, Nemeroff CB. The revolution of personalized psychiatry: will technologxy make it happen sooner?. Psychological Medicine. 2018; 48: 705-713
  • 17 Gaebel W, Wölwer W, Toeller V. (Guest Editors) 7th European Conference on Schizophrenia Research – Schizophrenia and other psychotic disorders: Time for precision medicine?. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci. 2019; 267, Suppl.1. DOI: 10.1007 / s00406-019-01045-6.