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DOI: 10.1055/a-1181-2138
Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
zum Abschluss meiner langjährigen Tätigkeit im wissenschaftlichen Beirat dieser Zeitschrift habe ich noch einmal gern die Planung und Betreuung dieses Schwerpunktheftes zur Bewegungstherapie in der Psychiatrie, Psychosomatik und Suchtbehandlung übernommen. Was Sie allerdings in dieser Ausgabe nicht erwarten dürfen: eine hochaktuelle RCT-Studie, eine weitere Metaanalyse, ein systematisches Review oder gar eine raffiniert angelegte Doppelblindstudie. Als Vertreter einer strengen methodologisch orientierten Sichtweise einer evidenzbasierten Medizin (EbM) mit der Bevorzugung externer Evidenz können Sie also dieses Heft rasch beiseitelegen; da erfahren Sie nichts Neues! Allerdings bestehen deren Hauptaussagen – bezogen auf die Wirkung von bewegungstherapeutischen Interventionen bei psychischen Erkrankungen – grob vereinfachend darin, dass Ausdauer- und Krafttraining im stationären Setting nicht schaden und zudem wirksam sind für körperliche Verbesserungen, was nicht wirklich überraschen kann. Im Hinblick auf das Wesentliche psychischer Erkrankungen, nämlich weitergehende Wirkungen des Trainings auf die Psyche bzw. auf die psychosozialen Bedingungen, besteht allerdings mehr Unklarheit als Klarheit oder wurden erst gar nicht mit einbezogen. Training und Trainingswirkungen werden deshalb z. T. mit einer ähnlichen Vorstellung wie ein pharmakologisches Medikament labormäßig untersucht und bewertet. Diese funktionelle Vorgehensweise hat zweifellos ihre Berechtigung. Inwieweit derartige Trainingsprogramme jedoch zur Entwicklung eines gesundheitsbezogenen aktiven Lebensstils über den Klinikaufenthalt hinaus beitragen bei einer Klientel, die überwiegend nicht über eine diesbezügliche Einstellung verfügt, darf mit einem dicken Fragezeichen versehen werden. Und in der Praxis tätige Bewegungstherapeuten wissen, dass viele Patientinnen und Patienten mehr brauchen als ein alleiniges evidenzgestütztes Ausdauer- und Krafttraining. Zudem werden mit einer derartigen Reduzierung der Bewegungs- und Sporttherapie auf funktionelles körperliches Training weitergehende Aufgaben und Zielsetzungen ausgeklammert; beispielsweise sind hier exemplarisch die Vermittlung bewegungs- und gesundheitsbezogener Kompetenzen oder die Verbesserung sozialer Kompetenzen zur gesellschaftlichen Integration zu nennen. Nun werden bei der Evidenzbeurteilung der bewegungstherapeutischen Interventionen bei psychischen Erkrankungen allerdings ausschließlich Studien mit dem oben genannten Designkriterien herangezogen. Zur Bestätigung dieser Aussage braucht man sich nur die verwendeten Literaturangaben bei den verschiedenen Leitlinien oder den Reha-Therapiestandards anzuschauen, die fast ausschließlich den englischsprachigen Recherchesystemen (Cochrane; PubMed. u. a. ) entnommen sind. Insofern wundert es nicht, dass die Evidenz der Bewegungstherapie aus der Sicht externer Evidenzbasierung eher bescheiden ausfällt, also zweitklassig („kann oder sollte“ als Empfehlungsgrad), da andere Facetten oder Perspektiven ausgeklammert werden, die durchaus zum Beleg ihrer Wirksamkeit beitragen können.
Publikationsverlauf
Artikel online veröffentlicht:
20. August 2020
© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York