neuroreha 2020; 12(03): 103-104
DOI: 10.1055/a-1193-7919
Gelesen und kommentiert

Gelesen und kommentiert

Ist eine somatosensorische Erholung essenziell für die Verbesserung der oberen Extremität nach Schlaganfall?

Zandvliet SB, Kwakkel G, Nijland RHM et al. Is recovery of somatosensory impairment conditional for upper-limb motor recovery early after stroke? Neurorehabilitation and Neural Repair 2020; 34: 403–416. doi:10.1177/1545968320907075

Zusammenfassung der Studie

Ziele

Ziel der Studie war es, den Einfluss der somatosensorischen Erholung auf eine Verbesserung der oberen Extremität nach Schlaganfall zu evaluieren.


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Methodik

Design Es handelt sich um eine multizentrische Längsschnittuntersuchung (Daten zusammengefasst aus der EXPLICIT-, EXPLORE-Stroke- und 4DEEG-Studie).

Ein- und Ausschlusskriterien Eingeschlossen wurden Patienten mit einem Schlaganfall innerhalb der ersten 3 Wochen und einer Armparese im Alter von 18–80 Jahren ohne schwere kognitive Defizite und einer Sitzfähigkeit länger als 30 s. Ausgeschlossen wurden Patienten mit anderen neurologischen Erkrankungen.

Interventionen Individuelle Therapien im Rahmen der stationären Rehabilitation.

Messungen Somatosensorische Einschränkungen der oberen Extremität wurden mit der Erasmus MC Modification des geänderten Nottingham Sensory Assessment (EmNSA, maximal 40 Punkte) erhoben. Einteilung der Ergebnisse auf der EmNSA nach somatosensorischer Einschränkung. Motorische Einschränkungen wurden mit dem Fugl-Meyer-Test (FM-UE) für die obere Extremität erhoben, mit einem Trennwert von 18 Punkten zwischen motorisch schwer bzw. leicht betroffen. Unterscheidung zwischen klinisch relevant und nicht relevant erholt über den FM-UE:

  • motorisch klinisch relevant nicht erholt: FM-UE-Punktwert < 18 zu Beginn, < 6 FM-UE-Punkte Verbesserung sowie weniger als 18 FM-UE-Punkte 26 Wochen nach Schlaganfall

  • motorisch klinisch relevant erholt: FM-UE-Punktwert < 18 zu Beginn, mindestens 6 FM-UE-Punkte Verbesserung sowie mindestens 18 FM-UE-Punkte 26 Wochen nach Schlaganfall

Als weitere Variablen wurden das Alter, die betroffene Hemisphäre, Komorbiditäten (Cumulative Illness Rating Score, CIRS), visuell-räumlicher Neglect (Letter Cancellation, LCT), Kraft der unteren Extremität (Motricity Index, MI-LE) und die Schwere des Schlaganfalls (National Institutes of Health Stroke Scale, NIHSS) im Zeitraum von 26 Wochen nach Schlaganfall gemessen.


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Ergebnisse

Insgesamt wurden 95 Patienten im mittleren Alter von 60 Jahren und im Mittel 10 Tage nach Schlaganfall in die Studie eingeschlossen. Im Ergebnis zeigte sich im Median in der sensorischen Erholung (EmNSA-UE) eine Verbesserung von initial 24 auf 39,5 Punkte (maximale Punktzahl 40 Punkte). Motorisch erholten sich die Patienten im FM-UE im Median von 7 auf 40 Punkte.

Es zeigte sich ein deutlicher Effekt hinsichtlich der Veränderung im Verlauf im EmNSA-UE und der Motorik, zu Beginn gemessen mit dem FM-UE (gute Motorik zu Beginn deutet auf gute Erholung der Somatosensorik hin). Für die Patienten mit guter Motorik zu Beginn der Studie (FM-UE ≥ 18 Punkte) gab es somit einen Zusammenhang zwischen FM-UE und EmNSA-UE. Für die Patienten mit schlechter Motorik zu Beginn der Studie (FM-UE < 18 Punkte) gab es diesen Zusammenhang zwischen FM-UE und EmNSA-UE nicht.

Nach einer statistischen Anpassung für mögliche Störfaktoren wie Alter und Komorbiditäten blieb ein Zusammenhang zwischen motorischer und somatosensorischer Beeinträchtigung bestehen. Bezog man den Zeitverlauf der Erholung ein, war die Spontanerholung der Hauptfaktor für eine Verbesserung sowohl von Sensorik als auch Motorik. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass schwere somatosensorische Beeinträchtigung in den ersten Wochen nach dem Schlaganfall kein limitierender Faktor für die motorische Erholung ist.


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Schlussfolgerung

Vor allem die spontane neurobiologische Erholung könnte ein Faktor sein, der sowohl die Erholung der Motorik der oberen Extremitäten als auch von somatosensorischen Beeinträchtigungen in den ersten 12 Wochen nach Schlaganfall bedingt. Die Spontanerholung der somatosensorischen Beeinträchtigung scheint eine Voraussetzung für die vollständige motorische Wiederherstellung der oberen paretischen Extremität zu sein.


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Kommentar

Die Studie räumt mit dem Vorurteil auf, dass die Sensomotorik eine unmittelbare Grundvoraussetzung für die motorische Erholung ist. Vielmehr scheinen bei schwer betroffenen Patienten zu Beginn sowohl die Motorik als auch die Sensomotorik (schwer) betroffen zu sein. Die Prognose war von bereits bekannten prognostischen Faktoren abhängig. Der initiale klinische Schweregrad hilft bei der Einschätzung der späteren Erholung. Die Studie gibt keine Auskunft darüber, inwiefern eine Behandlung der Sensorik nach Schlaganfall zu besseren oder schlechteren Ergebnissen z. B. der Motorik im Langzeitverlauf führt. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass nur Interventionen, die deutlich größere Effekte als die Spontanerholung bewirken, Patienten nach Schlaganfall beim Wiedererlangen der Funktion der oberen Extremität unterstützen können. Dies lässt sich jedoch nur mit randomisierten und kontrollierten Studien nachweisen.

Fazit Eine interessante Studie, die einen nur geringen Einfluss der Sensomotorik auf die motorische Erholung der oberen Extremität nach Schlaganfall zeigt.

Autor

Prof. Dr. rer. medic. habil. Jan Mehrholz

Professor für Therapiewissenschaften

Campus Gera

Neue Straße 28–30

07548 Gera


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Publication History

Article published online:
08 September 2020

© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York