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DOI: 10.1055/a-1215-2594
Neuropsychologie

Erfrischende Perspektiven!
In diesem Heft wird deutlich, dass Neuropsycholog*innen vielfältige Aufgaben in den verschiedenen Versorgungsbereichen und Behandlungssettings übernehmen. Die übliche Trennung in Kinder-/Jugendlichenpsychotherapie und Erwachsenenpsychotherapie gibt es hierbei nicht – stattdessen weist die klinische Neuropsychologie eine entwicklungsneuropsychologische Orientierung auf, die die Hirn-, Funktions- und Funktionsstörungsentwicklung von pränatalen bis altersdegenerativen Einflüssen berücksichtigt. Die Richtlinie für neuropsychologische Therapie umfasst, ebenso wie die zukünftige Weiterbildung in Neuropsychologischer Psychotherapie, die gesamte Altersspanne vom frühen Kindes- bis zum hohen Lebensalter.
Die Klinische Neuropsychologie ist eigenständige Versorgungsleistung, die umfangreiche Spezialkenntnisse und klinische Erfahrungen erfordert und anderweitig im System nicht verfügbar ist. Sie ist seit 2008 in Deutschland die einzige wissenschaftlich anerkannte Psychotherapiemethode zur Behandlung organisch bedingter psychischer Störungen (ICD-10, F0). Die neuropsychologische Behandlung ist seit Jahrzehnten fester Bestandteil während des Aufenthaltes im Krankenhaus und/oder in der Rehabilitation. Die ambulante neuropsychologische Therapie wurde 2012 als neue Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland etabliert. Allerdings besteht gegenwärtig ein eklatanter Mangel an Leistungserbringern im Bereich Klinische Neuropsychologie. Hauptverantwortlich hierfür ist die aktuelle Aus- und Weiterbildungssituation in der Neuropsychologie: Da eine mehrjährige Qualifizierung in Klinischer Neuropsychologie (KNP) nach einem Psychologiestudium nicht zur Approbation führt, ist zusätzlich eine Approbationsausbildung in einem Psychotherapieverfahren notwendig. So gibt es aktuell nur ca. 210 zur kassenärztlichen Versorgung zugelassene Leistungserbringer in Deutschland.
Ein Meilenstein für die Klinische Neuropsychologie ist die in Frühjahr 2021 beim Deutschen Psychotherapeutentag beschlossene Musterweiterbildungsordnung: Die Neuropsychologische Psychotherapie wird als drittes eigenständiges Gebiet einer psychotherapeutischen Weiterbildung etabliert. An einer neuropsychologischen Tätigkeit Interessierte können künftig nach einem abgeschlossenen Master in Klinischer Psychologie und Psychotherapie eine 5-jährige Weiterbildung in Neuropsychologischer Psychotherapie absolvieren. So wird die notwendige Aus- und Weiterbildungszeit für eine qualifizierte und berufs- und sozialrechtlich abgesicherte Tätigkeit auf dem Gebiet der Neuropsychologischen Psychotherapie verkürzt.
Die Themen dieses Heftes spiegeln die immense Vielfalt und Faszination der Klinischen Neuropsychologie wider. Sie umfasst die Diagnostik und Behandlung der Störungen psychischer und kognitiver Funktionen nach Erkrankungen des Zentralnervensystems, v. a. der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses, der Wahrnehmung, der Sprache, des Planens und Problemlösens, der Emotionalität und Affektivität, der Persönlichkeit, der Motivation sowie der sozialen Fertigkeiten (vgl. insbesondere die Beiträge von Klein et al., Werheid und Lidzba). Für die Tätigkeit als Klinische/r Neuropsychologe/in werden Kernkompetenzen und Wissen über die Struktur und Funktionsweise des menschlichen Gehirns, die damit verbundenen neuronalen Grundlagen von Denken, Fühlen und Handeln, über Erkrankungen und Verletzungen des Gehirns sowie ihre Auswirkungen auf Befinden und „Funktionsfähigkeit“ eines Menschen, über Methoden zur gezielten Nutzung der neuronalen Plastizität und zur Erstellung neuropsychologischer Behandlungspläne benötigt. Die Grundlage dieses Therapieplans und gleichzeitig eine Stärke der Klinischen Neuropsychologie sind die umfassenden diagnostischen Ansätze und Mittel, wie sie in dem Beitrag von Heinemann dargelegt sind. Diese dienen nicht nur als Basis für die Therapie, sondern sind auch wichtig für Begutachtungen (vgl. den Beitrag von Plohmann) und Prognosen.
Es ist aus fachlicher und Patient*innen-Sicht außerdem zwingend erforderlich, auch die Behandlung komorbider psychischer Störungen einzubeziehen. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen psychischen Störungen, die neben den neuropsychologischen Beeinträchtigungen oft mit einer erworbenen Hirnschädigung einhergehen (korrespondierende psychische Störungen, z. B. Angst oder Depression) und weiteren komorbiden psychischen Störungen, die unabhängig von der erworbenen Hirnschädigung vorhanden sind (z. B. Persönlichkeitsstörung oder Essstörung). Während die Behandlung ersterer ein integraler Bestandteil neuropsychologischer Therapie ist, erfordert die Therapie letzterer oft die Zusammenarbeit mit psychologischen und ärztlichen Psychotherapeut*innen, die für eine Behandlung in den sog. Richtlinienverfahren zugelassen sind.
Deswegen werden in der zukünftigen Weiterbildung in Neuropsychologischer Psychotherapie auch ausgewählte Methoden und Techniken eines weiteren Psychotherapieverfahrens vermittelt, die für die Behandlung korrespondierender psychischer Störungen bei neuropsychologischen Patient*innen geeignet sind. Hierbei können sich die Weiterbildungsteilnehmer*innen für ein Psychotherapieverfahren (Verhaltenstherapie, Systemische Therapie, Tiefenpsychologische Therapie oder Psychoanalytische Therapie) entscheiden. Die Besonderheiten der therapeutischen Beziehung und die Herausforderungen für deren Gestaltung in der neuropsychologischen Psychotherapie stellt Völzke in seinem Beitrag dar. Diesbezüglich ist auch die Arbeit mit Angehörigen (vgl. den Beitrag von Frischknecht et al.) und das individuelle Eingehen auf Patiennt*innen von enormer Relevanz, was nicht zuletzt in dem Beitrag aus Patientensicht deutlich wird.
Es ist zu hoffen, dass durch die Einführung der Neuropsychologischen Psychotherapie die neuropsychologische Versorgung von Menschen mit verletzungs- oder erkrankungsbedingten Hirnfunktionsstörungen verbessert werden kann. Möglicherweise regt ja auch die Lektüre dieses Heftes Studierende an, sich für eine Weiterbildung in Neuropsychologischer Psychotherapie zu interessieren, und es hilft bei der Zusammenarbeit zwischen Klinischen Neuropsycholog*innen bzw. den zukünftigen Fachpsychotherapeut*innen für Neuropsychologische Psychotherapie und den Psychotherapeut*innen der sog. Richtlinienverfahren.
Das Themenheft zeigt in eindrücklicher Weise auf, dass Neuropsychologische Psychotherapie die Psychotherapie zwar nicht von Grund auf neu erfindet, jedoch schon auch erfrischende Perspektiven bietet, die sich nur schwer in traditionelle, teilweise auch berufspolitisch geprägte Positionen verorten lassen. Dadurch bietet sich die Chance für das gesamte Feld, zentrale Fragen (wieder) neu zu stellen und verkrustete Lehrmeinungen aufzumischen. Beispielsweise: Biologisch-neurologische Aspekte werden besonders stark betont, jedoch nicht mit der Priorität medikamentöser Behandlungen. In den meisten Beiträgen werden psychotherapeutische Prinzipien hervorgehoben, die ein Denken in störungsspezifischen Interventionen nur unzureichend abbilden. Die dargestellten Fallkonzeptionen belegen ein breites biopsychosoziales Verständnis des Einzelfalls, ohne therapieschulspezifische Grabenkämpfe hervorzuheben. Die soziale Unterstützung im familiären Umfeld wird als zentral erachtet und entpathologisiert.
Auf dass wir uns auch in Zukunft produktiv verwirren lassen!
Thomas Guthke, Bettina Wilms, Christoph Flückiger
Publication History
Article published online:
24 November 2021
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