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DOI: 10.1055/a-1269-213
Nach Abschaffung des Paragraphen § 217. Wo stehen wir? – Die „Zwei Hände Methode“
Dieses Jahr 2020 werden wir alle in Erinnerung behalten als eines der wenigen Jahre, in denen unsere so sicher geglaubten Lebensumstände eine ziemliche Herausforderung erleben. Das betrifft natürlich nicht nur die Corona-Pandemie, die auch unseren diesjährigen DGP-Kongress so komplett anders hat werden lassen (Ein herzliches Dankeschön auch an dieser Stelle nochmals für den trotzdem tollen Kongress und die aktive digitale Teilnahme von so Vielen!). Kurz vor Ausbruch von Corona (in Köln waren es zwei Tage vor dem Beginn der massiven Einschränkungen) kam das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum § 217, welches viele von uns im Palliativ- und Hospizbereich an wesentlichen Grundfesten erschüttert [1]. Wo also stehen wir? Den Titel des entsprechenden Plenums auf dem diesjährigen DGP-Kongress aufnehmend möchte der folgende Artikel versuchen, Ihnen bei der Einschätzung, wo Sie und wir nun stehen, einen gewissen Rahmen („Zwei Hände“ mit jeweils „fünf Fingern“ bzw. Ebenen) für Ihre Gedanken liefern. Um nach der Erschütterung durch das Bundesverfassungsgericht neuen Stand und neue Standpunkte zu finden, sollten wir folgende Fragen sehr differenziert betrachten:
A. Wovon reden wir, wenn wir von „wir“ sprechen? – Die erste Hand
B. Auf welchem Spektrum der Möglichkeiten sollen wir einen (neuen) Standpunkt finden? – Die zweite Hand
C. Wo stehen wir juristisch, und was bedeutet das für uns?
D. Was könnten konsensfähige Aussagen für unser Fach sein?
A. Wovon reden wir, wenn wir von „wir“ sprechen? – Die erste Hand
Wenn „wir“ nun aufgerufen sind, einen neuen Standpunkt zu finden oder unseren alten zu bekräftigen, sollten wir uns zunächst über die Ebene bewusst sein, auf der wir einen neuen Standpunkt finden sollen. Wie fünf Finger an einer Hand gibt es auch hier fünf wesentliche Ebenen:
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Wir als Einzelne für uns und unser professionelles Handeln selbst Verantwortliche; wo stehe ich als Einzelner?
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Wir im Palliativ- und Hospizteam; wo steht unser Team?
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Wir als Teil einer größeren Organisation, z. B. eines Trägers von verschiedenen Einrichtungen oder einer gesamten großen Universitätsklinik oder Klinikverbundes; wie verhält sich unser Träger?
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Wir als Teil einer Interessensgemeinschaft unserer Gesellschaft, also z. B. die verfasste Ärzteschaft (Bundesärztekammer), aber natürlich auch die einzelnen Fachgesellschaften wie unsere DGP; wie verhalten wir uns als Fach „Palliativmedizin“?
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Wir als Gesellschaft, wobei derzeit die sozialen Folgen noch nicht abschätzbar sind, klar dagegen ist die derzeitige Position des Bundesverfassungsgerichts; was also sind die juristischen Rahmenbedingungen?
Wir sollten daher versuchen, bei allen Diskussionen diese verschiedenen Ebenen zu differenzieren. Auf welcher Ebene diskutieren wir gerade? Natürlich bestehen wir im Team aus unterschiedlichen Einzelpersonen, und es ist selbstverständlich, dass bei derartig kontroversen Diskussionen unterschiedliche Meinungen aufeinanderprallen. Diese werden wir voraussichtlich nicht vollständig auflösen können, es ist aber hilfreich, die Meinung meiner Teammitglieder zu kennen. Wie aber verhalten wir uns „unter der Fahne Palliativmedizin“, als Palliativ/Hospiz-Team oder Fachgesellschaft? Da das Bundesverfassungsgericht klar geäußert hat, dass jeder Einzelne, aber damit auch jede einzelne Gruppierung in unserer Gesellschaft sich für oder gegen Assistenz beim Suizid positionieren darf, haben wir hier eine klare Wahlfreiheit. Unsere Position – egal wie wir uns als „Palliativmedizin“ entscheiden – hat aber Folgen für die Betroffenen. Daher die Frage: Wozu sollen wir einen Standpunkt einnehmen?
B. Auf welchem Spektrum der Möglichkeiten sollen wir einen (neuen) Standpunkt finden? – Die zweite Hand
Zur Reflexion über diese Frage hilft mir sehr, mir das MAID-System vor Augen zu führen, welches der Psychiater und Palliativmediziner (ja wirklich!) Prof. Gary Rodin in Toronto im größten Krebszentrum Kanadas eingeführt hat [2]. Gary Rodin und sein Team waren plötzlich mit der juristisch vorgegebenen Situation konfrontiert, dass ihr Krankenhaus gesetzlich verpflichtet worden war, „medical assistance in dying (MAID)“ zu organisieren. Wichtig im Vergleich zu Deutschland ist natürlich zu wissen, dass sich dieses System prinzipiell von unserem unterscheidet:
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In Kanada wird keine größere klinisch-ethische und juristische Unterscheidung gemacht zwischen Assistenz beim Suizid und Tötung auf Verlangen. Bei der Implementierung von MAID in Toronto hat man entschieden, dass die Tötung auf Verlangen klinisch „sicherer“ sei und dass dies immer nur im stationären Bereich durchgeführt wird. Auch hier gilt natürlich der klare Unterschied zu Deutschland, wo es in der Diskussion „nur“ um die Assistenz beim Suizid geht. Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen in Deutschland ist nicht hinterfragt.
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Die MAID-Gesetzgebung bezieht sich „nur“ auf die klinische Situation von „dying“, operationalisiert auf die wahrscheinlich letzten zwölf Lebensmonate eines Patienten. In Deutschland gilt nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts keine Reichweitenbegrenzung, die deutsche Situation ist also nicht begrenzt auf die letzten zwölf Lebensmonate.
Trotz dieser Unterschiede zeigt das MAID-System klar, auf welchem Weg der Begleitung von betroffenen Patientinnen und Patienten wir uns positionieren müssen (5 Stufen, also die fünf Finger der zweiten Hand). Ein Mensch, der auf dem Weg zur Assistenz beim Suizid ist, wird zunächst ( Stufe 1 ) durch die zuständigen Berufsgruppen des Gesundheitssystems betreut. Auf dieser „normalen“ Versorgungs- und Begleitungsebene ist also jeder Mitarbeitende im Gesundheitssystem potenziell mit der Situation bereits konfrontiert.
Sollte trotz der therapeutischen Maßnahmen und Gesprächsangebote weiterhin der Wunsch nach Vorziehen des Todeszeitpunktes bestehen, so wird nach MAID die Stufe 2 aktiviert. Dabei handelt es sich um ein „Diagnostikteam“, welches klinikweit, also unabhängig von einzelnen Instituten oder Teams eingerichtet wurde, um bei Bedarf interdisziplinär und multiprofessionell besetzt mit den betroffenen Patienten ein weiteres intensiveres Diagnostikgespräch zu führen. Dieses Team ist unabhängig von der Versorgungsebene Stufe 1 und wird konsiliarisch dazugeholt. Ziel der Diagnostik ist, psychiatrische Komorbiditäten auszuschließen, die freie Willensbekundung festzustellen, mögliche Ängste vor den letzten Lebensmonaten besprechen zu können, weitere Hilfsangebote machen zu können etc. Ziel ist also, die Zahl der Menschen mit einem vorzeitigen Todeswunsch weiter zu reduzieren.
Was aber tun, wenn Menschen weiterhin den Wunsch nach vorzeitigem Todeszeitpunkt haben? Hier sagt das Bundesverfassungsgericht klar und eindeutig, dass der Staat dies nicht blockieren darf, und jeder das Anrecht auf Assistenz hat. Nach MAID kommt in Toronto die Stufe 3 ins Spiel, nämlich ein „Durchführungsteam“. Wie bereits gesagt, in Toronto mittels Tötung auf Verlangen im stationären Bereich. Die ersten Erfahrungen damit sind in der Arbeit im New England Journal 2017 [2] publiziert. In Deutschland gilt natürlich eine modifizierte Handlungsoption:
Stufe 3a . Wir positionieren uns ganz klar, wir können bei weiterbestehendem Todeswunsch nicht weiterhelfen und an dieser Stelle wird dann – natürlich unter weiterbestehendem Angebot der Palliativ- und Hospizversorgung – klar gesagt, „Wir assistieren nicht beim Suizid“. Dies bedeutet in der Konsequenz natürlich für die Betroffenen, dass sie sich irgendwie anders Hilfe suchen müssen.
Stufe 3b . Wir können natürlich auch den Standpunkt vertreten, wir assistieren selbst nicht beim Suizid, aber wir kooperieren mit seriösen Sterbehilfeorganisationen, wir gehen mit diesen ins Gespräch und begleiten die Patienten gemeinsam bis zu ihrem Tod.
Stufe 3c . Wahrscheinlich wird es in Zukunft die Möglichkeit geben, die Assistenz zum Suizid auch selbst anzubieten, ja wir assistieren auch beim Suizid.
Wenn wir überlegen, wo wir stehen, müssen wir überlegen, ob und wie weit wir uns auf allen Ebenen (fünf Finger) der „ersten Hand“ an den fünf Fingern der „zweiten Hand“ (Stufen 1, 2 oder 3 a, b oder c) beteiligen werden.
Das MAID-Konzept besticht nicht nur durch die Radikalität und analytische Klarheit des Systems (mich schockiert dieses System), es beinhaltet auch wesentliche Prinzipien, die wir ebenfalls für Deutschland überlegen sollten.
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MAID ist ein Konzept der Transparenz, alles, was getan wird, wird dokumentiert und ist überprüfbar. Eine Aktivität, die früher in einer Grauzone geschah, wird grell beleuchtet.
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Es ist ein Konzept der Schulung und Supervision. Die Mitglieder der Teams der Stufen 2 und 3 werden geschult, regelmäßig fortgebildet und supervidiert, und das gemeinsam und an zentraler Stelle.
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Das dritte wesentliche Element ist die Trennung der drei Ebenen. Hier wird also vermieden, dass die ursprünglichen Begleiter selbst den assistierten Suizid auch durchführen. Es gibt Stufen und es wird ein Prozess in Gang gesetzt, der auch Zeit gewährt, um ggf. von Todeswünschen wieder abzurücken.
C. Wo stehen wir juristisch und was bedeutet das für uns?
Das Bundesverfassungsgericht hat u. a. folgende klare Aussagen getroffen:
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Die Assistenz des Suizids wird erneut und klar als straffrei beschrieben. Eine Reichweitenbegrenzung (also Gültigkeit nur für bestimmte Gruppen der Gesellschaft) gibt es nicht. Voraussetzung ist die dauerhafte ernsthafte freie Selbstbestimmung. Damit wird die juristische Situation von 2015 wiederhergestellt, jedoch geht das Gericht einen wichtigen Schritt weiter:
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Die Autonomie des Einzelnen beinhaltet auch ein gewisses „Recht auf Suizid“. Der Staat darf Menschen nicht bei der Assistenz beim Suizid behindern. Durch die „doppelte Barriere“ Berufsrecht der Ärzte und § 217 war die Assistenz de facto vom Staat unmöglich gemacht worden. Daher wurde der § 217 für null und nichtig erklärt.
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Die Ärzteschaft (Berufsrecht, Bundesärztekammer und Landesärztekammern) muss sich neu positionieren, ob sie Suizidassistenz als ärztliche Aufgabe sieht oder nicht.
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Für den Fall, dass die Suizidassistenz nicht als ärztliche Aufgabe gesehen wird, muss es Sterbehilfeorganisationen geben (sonst wahrscheinlich auch, aber nicht so relevant). Ein Verbot kommerzieller Angebote – wie vom § 217 ursprünglich beabsichtigt – kann der Gesetzgeber wieder einführen. Der Gesetzgeber ist darüber hinaus aufgerufen, dieses nun sehr weit geöffnete Tor der Suizidassistenz durch Regularien wieder einzuschränken.
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Alle an dem Prozess Beteiligten (wie übrigens auch bei MAID) beteiligen sich unter ausschließlicher Freiwilligkeit. Niemand, kein Einzelner, aber auch keine Organisation, darf zur Assistenz beim Suizid gezwungen werden.
Was bedeutet das nun für uns? Für uns als Einzelne, in unseren jeweiligen Berufen oder als Hospizhelfer im Alltag müssen wir voraussichtlich für uns selbst entscheiden, ob wir zukünftig an einer Assistenz beim Suizid teilnehmen, oder nicht. Um diese Entscheidung werden wir aller Voraussicht nach in Zukunft nicht herumkommen. Die Entscheidung wird uns nicht von außen vorgegeben. Wir werden mit Sicherheit beide Optionen haben, und es wird uns kein Nachteil entstehen, egal wie wir uns entscheiden. Für uns Ärztinnen und Ärzte setzt dies natürlich voraus, dass sich die Bundesärztekammer entsprechend positioniert und eine Assistenz beim Suizid nicht mit Sanktionen belegt. Die kommenden Monate werden dies zeigen.
Wie weit aber beteiligen wir uns als Palliativ- und Hospizteams? Die Palliativ- und Hospizbewegung ist geprägt vom Gedanken an ein „Leben bis zuletzt“, welches wir zwar nicht künstlich hinauszögern, aber eben auch nicht künstlich verkürzen. Andererseits haben die Lebensqualität und der Wunsch der Betroffenen höchste Priorität. Was also, wenn der Wunsch der Betroffenen die Assistenz zum Suizid beinhaltet? Dies ist eine so kontroverse und emotional aufgeladene Frage, dass wir wahrscheinlich keinen Konsens auf individueller Ebene in unseren Teams, geschweige denn unserer Fachgesellschaft finden werden. Aber: sollten wir nicht doch versuchen, konsensfähige Aussagen für „die Palliativmedizin“ zu finden, immer mit der Gewissheit, dass wir uns als Einzelne auch bei Assistenz zum Suizid beteiligen werden dürfen?
Die erste Frage, die wir in der Palliativversorgung zu beantworten haben, lautet: Beteiligen wir uns überhaupt an der Diskussion? Würden wir dies nicht tun, wären wir rasch völlig außerhalb der Gesellschaftsdiskussion, und wir könnten keinen weiteren Einfluss nehmen. Diese auch kontroversen Diskussionen haben der Palliativmedizin insgesamt in Ländern wie den Niederlanden oder Kanada nicht geschadet – wir sollten also keine Sorge haben, uns an der Diskussion zu beteiligen. Haben Sie aber vor Ort in Ihren Team, bei Ihrem Träger die Diskussion über die Neupositionierung bereits begonnen? Wer damit noch nicht begonnen hat, sollte dies – so denke ich – in den nächsten Monaten für das eigene Team tun. Natürlich werden unterschiedliche Einzelmeinungen im Team existieren, Ziel sollte aber ein Konsensprozess sein, wie man sich als Team positioniert. Genauso ist es auf Trägerebene oder im größeren Klinikverbund wichtig, einen entsprechenden Prozess zu starten. Tut man dies nicht, entscheidet sich der Träger für die individuelle Lösung, so dass es kein übergreifendes Konzept gibt und der Patient mit Beliebigkeit konfrontiert ist.
D. Was könnten konsensfähige Aussagen für unser Fach sein?
Ist es überhaupt möglich, zu einheitlichen Positionen zu kommen, bei diesem zum Teil sehr kontroversen Thema? Im Folgenden möchte ich abschließend einige persönliche Positionen zusammenfassen, auf die – so glaube ich – wir uns als Palliativ- und Hospizbewegte durchaus einigen können, sowohl als einzelne Teams wie auch möglicherweise initiiert durch uns, für unsere Träger, aber auch für die Fachgesellschaft:
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Sich einmischen. Wir mit unserer Erfahrung im Bereich von Palliativ- und Hospizarbeit müssen uns an der Diskussion beteiligen, diese sowohl auf der Einzelpatientenebene wie auch gesellschaftlich einbringen. Was sind die sozialen Auswirkungen dieses Urteils, und ist es wirklich das, wie wir uns unsere Gesellschaft vorstellen?
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Stärkung der eigenen Kommunikationskompetenz zum Thema Umgang mit Todeswünschen – bisher ein blinder Fleck auch im Bereich der Ausbildung im Palliativ- und Hospizbereich. Die frühere Aussage „Gute Palliativmedizin führt zu einer Abschaffung von Todeswünschen“, stimmt so nicht mehr. In dieser Frage hat sich in den letzten Jahren ein deutlicher Paradigmenwechsel ergeben. Alle Lehrenden in diesem Bereich sind also aufgerufen, das Thema in der Curricula zu verankern und auf Team- und Systemseite die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu stärken. Dies wird auf der ersten Stufe der regulären klinischen Betreuung bereits zu einer deutlichen Differenzierung und Unterstützung für die Betroffenen führen. Hierzu gibt es inzwischen sehr gute Modelle, nicht zuletzt durch unser Kölner Todeswunsch Projekt „The desire to die in palliative care: Optimization of management (DEDIPOM)“ [3]. In diesem Projekt haben wir einen Gesprächsleitfaden entwickelt und dazu passend eine zweitägige Schulung. Als Effekt derartig offener Gespräche auf Patientinnen und Patienten zeigten sich tatsächlich eine signifikante Reduktion von Depressivität und weitere Trends zu Verbesserung, z. B. bezüglich Hoffnungslosigkeit und der Angst vor Sterben und Tod. Ein offenes Gespräch über diese Themen schadet also zumindest nach diesen Daten definitiv nicht. Entsprechend ist auch die S3-Leitlinie Palliativmedizin zum Umgang mit Todeswünschen formuliert [4]. Schlüsselempfehlungen und Piloterfahrung in diesem Bereich liegen also ausreichend vor.
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Beteiligung an einer systematischen weitergehenden intensiven multiprofessionellen und interdisziplinären Diagnostik. Dies sollte eine Forderung mit aktiver Beteiligung von Palliativ- und Hospizstrukturen in allen unseren Einrichtungen sein. Wichtig wäre, dass dies wirklich interdisziplinär von mehreren Fachrichtungen getragen wird und sozusagen vonseiten der Träger vorgehalten wird. Keine einzelne Klinik, kein einzelnes Team ist also das „Todesteam“. Ein solches Diagnostikteam sollte sektorenübergreifend im stationären, aber auch im ambulanten Bereich entwickelt werden, mit entsprechender Aus-, Fort- und Weiterbildung sowie Supervision und Dokumentation, um ein lernendes System zu etablieren.
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Für die Handlungskonsequenzen hält die Palliativmedizin und die Hospizbewegung natürlich auch Handlungsoptionen außerhalb der Assistenz zum Suizid bereit, welche proaktiv angeboten werden sollten. Dies betrifft nicht nur die kritische Hinterfragung medizinischer Indikationen, bestimmter Maßnahmen, das Ermuntern der Patientinnen und Patienten auch keine Zustimmung zu vorgeschlagenen Maßnahmen zu geben, natürlich die gesamte Breite palliativmedizinischer Hilfen bis hin zur terminalen Sedierung oder der Begleitung nach Beginn von freiwilligem Verzicht auf Essen und Trinken. Diese Angebote sollten wir im Palliativ- und Hospizbereich proaktiv in die Diskussion mit einbringen.
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Die Assistenz zum Suizid ist keine Aufgabe der Palliativmedizin. Sie darf in unserer Öffentlichkeitsarbeit nicht als Angebot formuliert sein, Patienten sollten nicht mit diesem Auftrag aufgenommen werden. Das schließt aber nicht aus, dass sich Einzelne von uns im bereits länger begleiteten Einzelfall – im Rahmen der gesetzlichen Regeln – an übergeordneten Strukturen zur Suizidassistenz beteiligen.
Das Jahr 2020 hat uns also nicht nur Corona gebracht, sondern auch eine wegweisende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mit einer deutlichen Erschütterung unseres palliativen und hospizlichen Weltbildes. Wir sind nun aufgerufen, uns zu positionieren, um der sehr stark priorisierten Autonomie des Einzelnen die Erfahrungen aus der Realität entgegenzusetzen, dass es sich oft um eine so komplexe Situation handelt, dass viel komplexe Hilfe notwendig ist und es keine einfache Antwort gibt. Lassen Sie uns auch in den kommenden Monaten gemeinsam miteinander diskutieren, uns auf den Weg machen und einen festen Standpunkt finden!
Publication History
Article published online:
27 October 2020
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Literatur
- 1 BVerfG. Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020. – 2 BvR 2347/15 -, Rn. 1-343, http://www.bverfg.de/e/rs20200226_2bvr234715.html
- 2 Li M, Watt S, Escaf M. et al. Medical Assistance in Dying – Implementing a Hospital-Based Program in Canada. N Engl J Med 2017; 376: 2082-2088
- 3 Kremeike K, Frerich G, Romotzky V. et al. The desire to die in palliative care: a sequential mixed methods study to develop a semi-structured clinical approach. BMC Palliative Care 2020; 19: 49-60
- 4 https://www.leitlinienprogramm-onkologie.de/leitlinien/palliativmedizin/