Subscribe to RSS
DOI: 10.1055/a-1276-6811
Inanspruchnahme medizinischer Rehabilitation und Zugangsbarrieren bei Personen mit Migrationshintergrund – Ergebnisse der lidA-Kohortenstudie
Utilization of Medical Rehabilitation and Access Barriers for Persons with a Migrant Background – Results of the lidA Cohort StudyZusammenfassung
Einleitung Rehabilitationsleistungen werden von Personen mit Migrationshintergrund im erwerbstätigen Alter in Deutschland weniger in Anspruch genommen als von Personen ohne Migrationshintergrund. Ein Grund könnten Zugangsbarrieren sein. Sie können sowohl durch die Strukturen des Gesundheits-/Rehabilitationssystems als auch durch Einflüsse aus dem persönlichen Umfeld entstehen, z. B. finanzielle Belastungen durch Inanspruchnahme der Rehabilitation, oder kulturell bedingte Bedürfnisse. Neben dem Migrationshintergrund könnten weitere Faktoren wie Herkunftsland, Zuwanderungsgrund, Aufenthaltsdauer sowie Sozialstatus und religiöse Zugehörigkeit die Inanspruchnahme beeinflussen. Es wurde untersucht, inwieweit Unterschiede im Inanspruchnahmeverhalten auf den Migrationshintergrund und auf migrationsunabhängige Zugangsbarrieren zurückzuführen sind.
Methoden Die lidA-Studie ist eine deutschlandweite, repräsentative prospektive Kohortenstudie unter sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten der Geburtsjahrgänge 1959 und 1965 mit Fokus auf Arbeit, Alter, Gesundheit und Erwerbsteilhabe. Für die Analysen wurden Daten der ersten (2011) und zweiten Welle (2014) kombiniert. Neben bivariaten Auswertungen zur Beschreibung der Stichprobe nach dem Migrationsstatus wurden logistische Regressionsanalysen durchgeführt, um die Odds Ratios für den Einfluss des Migrationshintergrundes bzw. der Staatsangehörigkeit und weiterer Faktoren auf die Inanspruchnahme einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme zu schätzen.
Ergebnisse Die Chance der Inanspruchnahme einer medizinischen Rehabilitation ist für Migranten der 1. Generation erhöht (OR: 1,56; 95%-KI: 1,09–2,25). Wird zuhause überwiegend oder ausschließlich nicht Deutsch gesprochen, könnte dies mit einer vergleichsweise deutlich geringeren Chance einer Inanspruchnahme assoziiert sein (OR: 0,56; 95%-KI: 0,28–1,15). Da in Routinedaten zur Bestimmung des Migrationsstatus häufig nur die Staatsangehörigkeit verfügbar ist, wurden in einem weiteren Modell nur Migranten sowie Personen aus der 2. Generation berücksichtigt und der Einfluss der Staatsangehörigkeit auf die Inanspruchnahme untersucht. Eine ausländische Staatsangehörigkeit war nicht mit einer höheren Inanspruchnahme assoziiert (OR: 1,07; 95% KI: 0,55–2,08).
Diskussion Ergebnisse bisheriger Studien zur Inanspruchnahme einer medizinischen Rehabilitation von Personen mit Migrationshintergrund sind inkonsistent. Ursachen können unterschiedliche untersuchte Bevölkerungsgruppen, verschiedene Indikationen für eine Rehabilitation, eine zeitliche Veränderung im Inanspruchnahmeverhalten und auch die diversen Datenquellen sein. Wir fanden eine höhere Inanspruchnahme der medizinischen Rehabilitation durch selbst migrierte Personen im Vergleich zu Personen ohne Migrationshintergrund. Eine Ursache könnte unsere im Vergleich zu Auswertungen von Routinedaten präzisere Definition des Migrationshintergrundes sein. Personen mit Migrationshintergrund der 2. Generation unterscheiden sich in ihrem Inanspruchnahmeverhalten dagegen nicht signifikant von Personen ohne Migrationshintergrund. Wird zuhause überwiegend oder ausschließlich eine andere als die deutsche Sprache gesprochen, ist die Inanspruchnahme tendenziell geringer. Dieser Befund deckt sich mit den in der Literatur als Zugangsbarriere beschriebenen fehlenden Deutschkenntnissen.
Abstract
Introduction Rehabilitation services are considerably less used by persons with a migration background of working age in Germany than by persons without migration background. One reason could be access barriers. They can arise both from the structures of the health/rehabilitation system as well as from influences of the personal environment, e. g. financial burdens incurred through the use of rehabilitation or cultural expectations. In addition to the migration status, other factors such as country of origin, reasons for immigration, length of stay as well as the religious affiliation and social status could influence the utilization of medical rehabilitation. It was examined to what extent differences in utilisation are due to the migration background and to migration-independent personal barriers to access.
Methods The lidA-study is a nationwide, representative prospective cohort study among employees with insurable employment born in 1959 and 1965 with a focus on work, age, health and employment. Data from the first (2011) and the second wave (2014) were combined for the analyses. In addition to bivariate analyses to describe the sample according to migration status, logistic regression analyses were carried out to estimate the odds ratios for the influence of migration background or nationality and other factors on the use of a medical rehabilitation measure.
Results The chance of receiving medical rehabilitation is increased for migrants of the 1st generation (odds ratio (OR) 1.56, 95% confidence interval (CI): 1.09–2.25). If predominantly or exclusively no German is spoken at home, this could be associated with a comparatively much lower chance of utilisation (OR: 0.56, 95% CI: 0.28–1.15). Because only nationality is often available in routine data to determine the status of migration, another model only considers migrants and 2nd generation nationals and examines the influence of nationality on utilisation. A foreign nationality was not associated with a higher utilisation (OR: 1.07, 95% CI: 0.55–2.08).
Discussion Results of previous studies on the use of medical rehabilitation for people with a migration background are inconsistent. This could be due to different examined population groups, different indications for rehabilitation, a temporal change in utilisation and the various study designs as well as data sources. We found a higher use of medical rehabilitation services by persons with a migrant background (1st generation) compared to non-migrant persons. One reason could be our more precise definition of the migration background compared to analyses of routine data. If predominantly or exclusively another language than German is spoken at home, the utilisation tends to be lower. The finding coincides with a lack of German language skills described as an access barrier in the literature.
Publication History
Article published online:
05 November 2020
© 2021. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
-
Literatur
- 1 Statistisches Bundesamt (Destatis). Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2018; Wiesbaden. 2019; https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/Publikationen/Downloads-Migration/migrationshintergrund-2010220187004.pdf?__blob=publicationFile Accessed 15 Jan 2019
- 2 Ebener M, Hasselhorn HM. Untersuchung von Arbeit, Gesundheit und Erwerbsteilhabe in Zeiten älter werdender Belegschaften in Deutschland. Gesundheitswesen 2015; 77: e51-e56 doi:10.1055/s-0034-1398557
- 3 Hasselhorn HM, Ebener M, Müller BH. Determinanten der Erwerbsteilhabe im höheren Erwerbsalter – das „lidA-Denkmodell zu Arbeit, Alter und Erwerbsteilhabe“. Z Sozialreform 2015; 61: 403-433 doi:10.1515/zsr-2015-0404
- 4 Mittag O, Welti F. Medizinische Rehabilitation im europäischen Vergleich und Auswirkungen des europäischen Rechts auf die deutsche Rehabilitation. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 2017; 60: 378-385 doi:10.1007/s00103-017-2516-y
- 5 Reutin B, Schott T. Migration und Gesundheit. In: Schott T, Razum O. Migration und medizinische Rehabilitation. Weinheim Basel: Beltz Juventa; 2013
- 6 Voigtländer S, Brzoska P, Spallek J. et al. Die Inanspruchnahme medizinischer Rehabilitation bei Menschen mit Migrationshintergrund. Migration und medizinische Rehabilitation. Weinheim: Beltz Juventa; 2013
- 7 Kohler M, Ziese T. In: Robert Koch-Institut. Telefonischer Gesundheitssurvey des RKI zu chronischen Krankheiten und ihren Bedingungen – Deskriptiver Ergebnisbericht. Berlin: Robert Koch-Institut; 2004
- 8 Brzoska P, Razum O. Inanspruchnahme medizinischer Rehabilitation im Vorfeld der Erwerbsminderungsrente. Z Gerontol Geriatr 2019; 52 (Supp 1): 570-577
- 9 Brzoska P, Spanier K, Bethge M. Potenziale des Dritten sozialmedizinischen Panels für Erwerbspersonen (SPE-III) für die Forschung im Bereich Migration und Rehabilitation: Das Beispiel der Inanspruchnahme rehabilitativer Versorgung. Rehabilitation. 2019 26 DOI: 10.1055/a-0847-3234
- 10 Zollmann P, Pimmer V, Rose D. et al. Psychosomatische Rehabilitation bei deutschen und ausländischen Versicherten der Rentenversicherung im Vergleich. Rehabilitation 2016; 55: 357-368
- 11 Dyck M, Breckenkamp J, Wicherski J. et al. Utilisation of medical rehabilitation services by persons of working age with a migrant background, in comparison to non-migrants: a scoping review. Public Health Rev 2020; 41: 17
- 12 Schenk L. Migration und Gesundheit – Entwicklung eines Erklärungs- und Analysemodells für epidemiologische Studien. Int J Public Health 2007; 52: 87-96
- 13 Spallek J, Razum O. Erklärungmodelle für die gesundheitsliche Situation von Migrantinen und Migranten. Bauer, Bittlingsmayer, Richter Hrsg. Health inqualities. Determinanten und Mechanismen gesundheitlicher Ungleichheit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften;; 2008
- 14 Schwarz B, Markin K, Salman T. et al. Barrieren für Migranten beim Zugang in die medizinische Rehabilitation der gesetzlichen Rentenversicherung. Rehabilitation 2015; 54: 362-368
- 15 Razum O, Geiger I. Migranten. In: Schwartz FW, Badura B, Busse R. Das Public Health Buch. Gesundheit und Gesundheitswesen. München: Urban & Fischer; 2012
- 16 Klinik für Rehabilitationsmedizin, Medizinische Hochschule Hannover, Ethnomedizinisches Zentrum e.V. MiMi-Reha: Implementierung und Evaluation eines Info-Angebotes für MigrantInnen zur medizinischen Reha auf Basis der ‚MiMi-Kampagnentechnologie‘ – Abschlussbericht für die Projektlaufzeit 2013–2016. Abschlussbericht. 2017; http://forschung.deutsche-rentenversicherung.de/ForschPortalWeb/ressource?key=MiMi_REHA_Abschlussbericht.pdf Accessed 6 Jul 2018
- 17 Brzoska P, Yilmaz-Aslan Y, Aksakal T. et al. Migrationssensible Versorgungsstrategien in der orthopädischen Rehabilitation. Eine postalische Befragung in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung, Gesundheitsschutz 2017; 60: 841-848
- 18 Brzoska P, Voigtländer S, Spallek J. et al. Die Nutzung von Routinedaten in der rehabilitationswissenschaftlichen Versorgungsforschung bei Menschen mit Migrationshintergrund: Möglichkeiten und Grenzen. Gesundheitswesen 2012; 74: 371-378 DOI: 10.1055/s-0031-1280759.
- 19 Schenk L, Bau A-M, Borde T. et al. Mindestindikatorensatz zur Erfassung des Migrationsstatus. Empfehlungen für die epidemiologische Praxis. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 2006; 49: 853-860 DOI: 10.1007/s00103-006-0018-4.
- 20 Schnell R, Gramlich T, Bachteler T. et al. Ein neues Verfahren für namensbasierte Zufallsstichproben von Migranten. German Record Linkage Center. Working Paper Series 2012; No. WP-GRLC-2012-02
- 21 Liebau E, Humpert A, Schneiderheinze K. Wie gut funktioniert das Onomastik-Verfahren? Ein Test am Beispiel des SOEP-Datensatzes. SOEPpapers on Multidisciplinary Panel Data Research 976: 2018
- 22 Brzoska P, Voigtländer S, Spallek J. et al. Utilization and effectiveness of medical rehabilitation in foreign nationals residing in Germany. Eur J Epidemiol 2010; 25: 651-660
- 23 Schröder H, Kersting A, Gilberg R. et al. Methodenbericht zur Haupterhebung lidA-leben in der Arbeit. Bonn: infas Institut für angewandte Sozialwissenschaften GmbH; 2013
- 24 Hasselhorn HM, Peter R, Rauch A. et al. Cohort profile: the lidA Cohort Study – a German Cohort Study on Work, Age, Health and Work Participation. Int J Epidemiol 2014; 43: 1736-1749 DOI: 10.1093/ije/dyu021.
- 25 Jöckel K-H, Babitsch B, Bellach BM. et al. (Redaktionsgruppe). Messung und Quantifizierung soziographischer Merkmale in epidemiologischen Studien. Empfehlungen der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Epidemiologie (DAE), der Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (GMDS), der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) und der Deutschen Region der Internationalen Biometrischen Gesellschaft, erarbeitet von der Arbeitsgruppe ‚Epidemiologische Methoden‘ in der DAE der GMDS und der DGSMP. Online https://www.dgepi.de/assets/Leitlinien-und-Empfehlungen/708cf24a3d/Messung-und-Quantifizierung-soziodemographischer-Merkmale.pdf (letzter Zugriff: 23.04.2019)
- 26 Brzoska P, Sauzet O, Yilmaz-Aslan Y. et al. Self-rated treatment outcomes in medical rehabilitation among German and non-German nationals residing in Germany: an exploratory cross-sectional study. BMC Health Serv Res 2016; 16: 105
- 27 Rommel A, Saß AC, Born S. et al. Die gesundheitliche Lage von Menschen mit Migrationshintergrund und die Bedeutung des sozioökonomischen Status. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 2015; 8: 543-552 DOI: 10.1007/s00103-015-2145-2.
- 28 Rommel A, Köppen J. Migration und Suchthilfe – Inanspruchnahme von Leistungen durch Menschen mit Migrationshintergrund. Psychiatr Prax 2016; 43: 82-88 doi:10.1055/s-0034-1387291
- 29 Schenk L, Neuhauser H, Ellert U. et al. Robert Koch-Institut. Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) 2003–2006: Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund in Deutschland. Berlin: Robert Koch-Institut; 2008
- 30 Schröder CC, Dyck M, Breckenkamp J. et al. Utilisation of rehabilitation services for non-migrant and migrant groups of higher working age in Germany – results of the lidA cohort study. BMC Health Serv Res 2020; 20: 31 DOI: 10.1186/s12913-019-4845-z.