Ernährung & Medizin 2021; 36(04): 145
DOI: 10.1055/a-1449-0925
Editorial

Liebe Leserinnen, liebe Leser, …

Karlheinz Schmidt

Hunger

In der vorliegenden Ausgabe unserer „Ernährung & Medizin“ haben wir uns vorgenommen, einmal den vielfältigen und hochkomplexen Phänomenen nachzugehen, die unter dem Begriff „Hunger“ zusammengefasst werden. Dies hat auch mit aktuellen Entwicklungen zu tun, die zeigen, dass während der bestehenden Coronavirus-Pandemie der Hunger in der Welt massiv zugenommen hat. Unter Lockdown-Bedingungen und nachfolgenden Lieferketten-Problemen wird nämlich nicht nur die Industrieproduktion durch Chip- und Prozessor-Engpässe schwer beeinträchtigt, sondern es werden insbesondere auch die weltweiten Transportwege für Nahrungsmittel gestört. Die dadurch bedingten teilweise massiven Preisanstiege machen es für große Teile der Bevölkerungen in Entwicklungsländern unmöglich, ihre Versorgung mit Grundnahrungsmitteln sicherzustellen. Damit wird die Zahl der weltweit hungernden Menschen mit einer durchschnittlichen täglichen Aufnahme von weniger als 2000 Kilokalorien von derzeit mehr als 800 Millionen absehbar weiter zunehmen.

Gleichzeitig zur Problematik des Hungers in der Welt sind wir mit der Tatsache konfrontiert, dass etwa 2 Milliarden Menschen von Übergewicht und Adipositas betroffen sind, was ebenfalls ein erhöhtes Krankheits- und Mortalitätsrisiko mit sich bringt.

Zu trennen von diesem globalen Aspekt des Hungers in der Welt ist das Hungergefühl, das uns befällt, wenn wir beispielsweise einen Tag mit der Nahrungsaufnahme aussetzen. Für diesen Fall sind in unserem Organismus Regulationsprozesse niedergelegt, die Anlass zu verstärkter Nahrungsaufnahme geben. Analog existieren Regulationsprozesse, die nach Sättigung eine weitere Nahrungsaufnahme verhindern sollten. Eine wesentliche Rolle spielen dabei hormonelle Regulationsketten, die zumindest teilweise in ihren Mechanismen aufgeklärt sind. Die beteiligten Hormone, wie z. B. Insulin, Leptin, Ghrelin, Cholecystokinin und viele andere, lassen sich labordiagnostisch erfassen und können mit Hunger oder Sattheit korreliert werden. Bei entsprechenden Regulationsstörungen sind auf dieser Basis auch entsprechend kontrollierte Interventionen möglich. Diese homöostatischen Regulationen beschränken sich allerdings auf die voluminösen Makronährstoffe im Sinne von Kohlenhydraten, Proteinen und Fetten, die im Magen-Darm-Trakt einen Dehnungsreiz auslösen oder auch spezifische Rezeptoren haben.

Für viele der lebenswichtigen essenziellen Mikronährstoffe wie Vitamine, Mineralstoffe, Spurenelemente und sekundäre Pflanzenstoffe trifft dies jedoch nicht zu, sodass sich ein bedrohlicher versteckter Hunger ergeben kann, für den wir jedoch kein Hungergefühl entwickeln. Nur durch analytische Nachweise lassen sich derartige Defizite erkennen, ehe es zu schweren gesundheitlichen Problemen kommt.

Ein weiterer wichtiger Aspekt sind in diesem Zusammenhang auch katabole Stoffwechsellagen, die bei konsumierenden Erkrankungen oder auch in höherem Alter gehäuft auftreten und ohne Hungergefühl zu einem riskanten Gewichtsverlust führen können, der sich auch durch ernährungsmedizinische Maßnahmen oft nur schwer kompensieren lässt.

Auch die Psyche muss als Ausgangspunkt für Störungen in diesem Bereich in den Blick genommen werden, wobei Bulimie und Anorexie nur die Spitze eines Eisbergs sind.

Eine zentrale Ursache für den weltweiten Hunger sind die explodierenden Bevölkerungszahlen in vielen Entwicklungsländern und Metropolregionen. Diese Entwicklung umzukehren, anstatt an den Folgen herumzukurieren, würde nicht nur den Hunger in der Welt, sondern auch den Klimawandel, den Ressourcenverbrauch, die Armut, die Migration und viele andere problematische Epiphänomene beseitigen und der Menschheit qualitatives Wachstum mit verbesserter Bildung ermöglichen. Politische Lösungen wären jederzeit möglich.

Eine Schande für die gesamte Menschheit ist jedoch die Tatsache, dass auch im 21. Jahrhundert Hunger – wie bei Belagerungen im Altertum und im Mittelalter – immer noch als gezielte Waffe eingesetzt wird.

Ihr

Karlheinz Schmidt



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
07. Dezember 2021

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