Nervenheilkunde 2021; 40(12): 1022
DOI: 10.1055/a-1467-7156
Buchbesprechungen

Van Gogh: Manie und Melancholie

Ein Porträt
Christian Hellweg
,
Johannes Ermel

Manfred Clemenz. Van Gogh: Manie und Melancholie: Ein Porträt. Köln: Böhlau; 2020, 450 Seiten, gebunden, 55,00 Euro, ISBN 9783412515942

Trotz der glühenden Farben und ekstatischen Formen: Für van Gogh ist Kunst Mühsal und Leiden. Zugleich ist sie für ihn die einzige Therapie gegen Melancholie. Für ihn ist das Kunstschaffen also Krankheit und Therapie zugleich. Tiefste Melancholie und ekstatischer Schaffensrausch wechseln bei ihm einander ab, wobei das Leiden für van Gogh eine Voraussetzung für seine Kreativität darstellt. Es handelt sich für ihn dabei um einen höheren Bewusstseinszustand, den er für seine künstlerische Tätigkeit unbedingt braucht und daher häufig selbst herbeiführt: durch Nahrungsentzug, durch Intoxikation, durch Selbstkasteiung.

Kunst ist für van Gogh aber auch Therapie durch mühsame Arbeit, zugleich die Möglichkeit, sich seiner eigenen Bedeutung als Teil einer „Wiedergeburt der Kunst“ zu vergewissern. Entwertung der eigenen Person und grandiose Selbsterhöhung stehen sich bei ihm dabei unmittelbar gegenüber. Der Autor Manfred Clemenz (Soziologe, Psychotherapeut und Kunsthistoriker) stützt sich bei seiner Metaanalyse des außerordentlich kontrovers diskutierten Themas von van Goghs Krankheit vor allem auf Vincents eigene Korrespondenz, auf historisch belegte Fakten und auf die relevante Sekundärliteratur. Einigermaßen sicher können wir aus den zeitgenössischen Beschreibungen und Diagnosen nur entnehmen, dass van Gogh in seinen letzten beiden Jahren unter epileptoiden Anfällen, extremen Stimmungsschwankungen, Halluzinationen und Amnesien litt.

Clemenz gelingt es in dieser fundierten und inspirierenden Metaanalyse anhand ausgewählter Texte jedoch, ganz neue Sichtweisen auf van Goghs Erkrankungen zu eröffnen. Auf diese Weise wird das Interpretationsspektrum bezüglich der Wechselbeziehungen zwischen den Krankheiten van Goghs und seinem künstlerischen Schaffen erheblich erweitert. Van Gogh verortet sich selbst zwischen Manie und Melancholie, dabei unterscheidet er bei sich eine destruktive und eine kreative, aktive Melancholie. Intuitiv bezieht er sich damit auf eine Diagnose, die bereits seit der Antike bekannt ist und einen Gemütszustand beschreibt, der zwischen Depression und Manie schwankt. In Wirklichkeit jedoch muss es sich bei van Gogh um einen viel komplexeren und mehrdimensionalen Wirkungszusammenhang zwischen seinen Krankheiten und seinem künstlerischen Schaffen gehandelt haben, wie Clemenz in seinem äußerst informativen Buch sehr anschaulich aufzeigen kann.

Christian Hellweg, Frankfurt am Main



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
06. Dezember 2021

© 2021. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany