Nervenheilkunde 2021; 40(10): 821-822
DOI: 10.1055/a-1484-0762
Gesellschaftsnachrichten

Autonomes Nervensystem: Neues aus Forschung und Praxis

Christina Haubrich

Autonome, leitliniengerechte Diagnostik in Zeiten von COVID-19

Das wissenschaftliche Verständnis auf dem Gebiet des autonomen Nervensystems (ANS) und seinen Erkrankungen hat in den vergangenen 30 Jahren enorm von der multidisziplinären Zusammenarbeit, einer einheitlichen Nomenklatur, universellen diagnostischen Kriterien und der Entwicklung validierter, nicht invasiver Testmethoden profitiert. Eine Vielzahl autonomer Funktionsuntersuchungen sind gut validiert, reproduzierbar, sensitiv und erfassen wichtige Komponenten des ANS, wie die Sudomotorik, kardiovagale und sympathische Innervation oder die adrenerge Blutdruckregulation. Neben den seit vielen Jahren verwandten klassischen Untersuchungsmethoden in den meisten autonomen Laboren mit der Kipptischuntersuchung, der Messung der Herzfrequenzvariabilität und der Darstellung der Schweißsekretionsstörungen sind in den vergangenen Jahren verschiedene Leitlinien entstanden, die sich dezidiert mit der Diagnostik und Therapie autonomer Störungen auseinandersetzen. Beispielhaft seien hier insbesondere die DGN-Leitlinie zur Diagnostik der Synkopen oder der erektilen Dysfunktion genannt. Leitlinien in hoher Zahl definieren standardisierte Vorgehensweisen zu Diagnostik und Therapie autonomer Störungen.

Die Auswahl geeigneter Untersuchungsmethoden zur Diagnostik einer autonomen Störung ist eine der kritischsten Fragen im diagnostischen Prozess. Meist ist mehr als eine Methode notwendig, und diese Auswahl sollte nach einer ausführlichen, detaillierten autonomen Anamnese gelingen. Die meisten autonomen Labore bieten zumindest eine kardiovaskuläre und eine sudomotorische Untersuchung an. Die überwiegende Zahl der Leitlinien sind S1-Leitlinien mit Handlungsempfehlungen von Expertengruppen nach einer Konsensfindung in einem informellen Verfahren. Leitlinienanwender nehmen diese hinsichtlich ihrer Verbindlichkeit jedoch sehr unterschiedlich wahr. Die Leitlinienautoren sind meist in den nationalen oder internationalen Fachgesellschaften oder Subspezialitäten zu finden. Die Evaluierung der Effekte von Leitlinien auf patientenrelevante Endpunkte steht noch aus und kann nur gelingen, wenn Strukturen wie autonome Funktionslabore vorhanden sind oder geschaffen werden, die die Implementierung durchsetzbar und vergleichbar machen. Erst bei Anwendung einer Leitlinie in der Klinik und Praxis entscheidet sich deren Nutzen. Die Auswahl der hier dargestellten Leitlinien ist willkürlich und bezieht sich insbesondere auf einen hohen Nutzen in der täglichen Anwendung im autonomen Labor. Eine hohe methodische und fachliche Qualität sowie gute Anwendbarkeit und hohe Verbreitung der Leitlinien ist eine wichtige Voraussetzung für deren Implementierung, reicht jedoch in der Regel nicht aus, eine Verhaltensänderung herbeizuführen.

Angesichts der COVID-19-Pandemie haben sich etablierte Strategien und Untersuchungsmethoden jedoch verändert. Diagnostische Schritte sind im Rahmen der Coronaviruspandemie (SARS-CoV-2) zunehmend verändert worden und waren zum Teil deutlich eingeschränkt. Die allgemeinen Vorsichtsmaßnahmen lassen sich bei patientennahen Tätigkeiten wie in Klinik und Praxis nicht immer einhalten. Ausführliche autonome Diagnostik benötigt ausreichend Zeit, sodass ein regelmäßiges Lüften des Untersuchungsraumes dringend geboten ist.

Mindestens 7 Tage vor der autonomen Diagnostik sollte ein Nasopharyngealabstrich mittels PCR auf SARS-CoV-2 untersucht werden. Im eigenen Labor wird bei Untersuchungen über 3 h Dauer oder einer ambulanten Vorstellung bei 3 oder mehr Kontakten zusätzlich ein SARS-CoV-2-Antigenschnelltest durchgeführt. Die Mitarbeiter sind durch persönliche Schutzkleidung, FFP2-Maske und Einmalhandschuhe zu schützen. Bei Prüfung der vertieften Respiration als auch beim Valsava-Manöver kommt es durch die Untersuchung und das Abnehmen der Maske des Patienten zu einer vermehrten Aerosolfreisetzung. Daher ist hierbei auf einen ausreichenden Abstand des Untersuchers zu achten und nach Möglichkeit eine hoch klassifizierte Schutzmaske (FFP2 oder FFP3) zu tragen. Das Valsalva-Manöver kann mit einem Einweg-Virenfilter am Mundstück durchgeführt werden. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, die Anzahl der Wiederholungen bei der vertieften Respiration auf 5–6 Zyklen – statt der üblichen 10 Zyklen – zu reduzieren. Die quantitative Schweißmessung ist weitestgehend unverändert möglich. Im Rahmen einer Kipptischuntersuchung kann es allerdings gelegentlich zu Übelkeit und möglicherweise auch Erbrechen kommen, hierbei kann die Maske während der Untersuchung hinderlich sein. Alle Oberflächen, mit denen der Patient in Kontakt gekommen sein mag, werden zu Untersuchungsende desinfiziert.

Im Rahmen von COVID-19-Erkrankungen sind zahlreiche neurologische Störungen beschrieben. Diese reichen von Verlust von Geruchs- und Geschmackssinn bis hin zu Enzephalitiden und Schlaganfällen. Inwieweit es sich immer um kausale Zusammenhänge oder um zeitliche Zufälle handelt ist bei einigen der zahlreichen publizierten Fälle kritisch zu hinterfragen.

Aus der der Vergangenheit sind zahlreiche Viruserkrankungen bekannt, die zum Teil schwere neurologische Schäden als direkte Neurotoxizität beinhalten. Hierbei ist an die Poliomyelitis, die Herpes-Encephalitis oder Erkrankungen durch das Zika-Virus zu denken. Diesbezüglich schein SARS-CoV-2 weniger problematisch zu sein. Allerdings sind hinsichtlich des autonomen Nervensystems scheinbar eine Häufung von Guillain-Barre-Syndromen zu beachten. Hierzu sind zahlreiche Publikationen zu finden, die Fallserien oder kurze Reviews beinhalten. Gehäuft beschrieben wird auch das Auftreten eines posturalen Tachykardie-Syndroms nach einer COVID-19-Erkrankung.

Sicherlich beschäftigen werden uns in Zukunft „Long-COVID“-Verläufe, die seit dem Sommer 2020 zunehmend publiziert werden. Es werden Symptome ähnlich einem Chronic-fatique-Syndrom, welches auch nach anderen Viruserkrankungen (z. B. EBV) beschrieben ist, genannt. Frauen zwischen 25 und 50 Jahren ohne wesentliche Vorerkrankungen scheinen die am stärksten betroffene Gruppe zu sein. Symptome, die neben den genannten geschildert werden, sind eine orthostatische Intoleranz, Kopf- und Brustschmerzen, subjektive Atemnot und Ängstlichkeit. Bei der bei COVID oft langen Intensivpflichtigkeit mit prolongierter Beatmungstherapie ist das gehäufte Auftreten einer Critical illness polyneuropathy differenzialdiagnostisch abzugrenzen.

Auszug aus: Carl-Albrecht Haensch (Hrsg.) Das autonome Nervensystem. Grundlagen, Organsysteme und Krankheitsbilder. 2., vollständig aktualisierte Auflage. Stuttgart: Kohlhammer, 2022, in Vorbereitung. Das in 2022 aktualisiert vorliegende Werk gibt gegenwärtig die umfassendste deutschsprachige Darstellung der Diagnostik und Therapie der Erkrankungen des Vegetativums. Ebenso bietet es eine detaillierte Einführung in die Grundlagen der vegetativen Anatomie und Physiologie. Der Band versammelt Beiträge eines Autorenkollektivs führender Experten.

Christina Haubrich, Düsseldorf



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
05. Oktober 2021

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