Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin 2021; 31(04): 224-226
DOI: 10.1055/a-1528-9009
Editorial

Klinische Entscheidungen in der Physikalischen und Rehabilitativen Medizin

Christoph Gutenbrunner

Bedeutung des „Vierten Faktors“

Ein 50-jähriger Schreiner mit starken über fast ein Jahr andauernden belastungsabhängigen pseudoradikulären Lumbalbeschwerden und ein im MRT nachgewiesenen links dorso-lateralen Sequester der Bandscheibe L5/S1 und einer klinisch nachweisbaren dezenten Fußheberschwäche links stellt sich PRM-fachärztlich vor. In Praxis A werden eine NSAR und Krankengymnastik verordnet und eine Wiedervorstellung in 6 Wochen vereinbart. In Praxis B, die an ein ambulantes Rehabilitationszentrum angeschlossen ist, werden neben einem NSAR, Manuelle Therapie, Ergotherapie und eine dynamische Fußheberorthese verschrieben. Die Wiedervorstellung ist nach 3 Wochen geplant. Derselbe Patient wird wegen langen Arbeitsunfähigkeitszeiten in eine Rehabilitationsklinik aufgenommen, wo neben NSAR, Physio- und Ergotherapie eine Schmerzbewältigungsgruppe, medizinische Trainingstherapie und Medizinisch-berufliche Rehabilitationsmaßnahmen durchgeführt werden. Kontrollen erfolgen wöchentlich. Sind diese Unterschiede in der Therapie bzw. Rehabilitation mit dem Konzept der „evidenzbasierten Medizin“ („evidence-based medicine [ 1 ]“) vereinbar? Können die Unterschiede im Sackett’schen Modell der „evidenzbasierten Entscheidung“ („evidence-based decision making“) erklärt werden?

Sackett u. Mitarb. [1] haben drei wesentliche Faktoren identifiziert und beschrieben, die im Idealfall der ärztlichen Entscheidungsfindung zugrunde gelegt werden sollte:

  1. die klinische Beurteilung, die auf den Regeln der ärztlichen Diagnostik beruht und auch die ärztlichen Erfahrungen beispielsweise in der Prognosestellung einschließt,

  2. die Werte, Ziele und Präferenzen des/der Patienten/in, die in einen partizipativen Entscheidungsprozess Eingang finden sollten, und

  3. relevante Beweise („evidence“) zu Effektivität und Risiken aus klinischen Studien.

In diesen Faktoren unterscheiden sich die drei oben genannten Behandlungssettings aber nicht bzw. nicht wesentlich.

In der medizinischen Literatur finden sich aber bereits seit vielen Jahren einige Hinweise, dass Entscheidungen in der Versorgung von weiteren Faktoren abhängen, z. B. individuelle Ziele der Patientinnen und Patienten [2], kulturelle Einflüsse, die Organisationsstruktur und die Methoden der Erfolgsmessung [3] oder auch die ökonomischen Verhältnisse einschl. des sozialen Hintergrunds sowie die Verwaltungsstrukturen und Personalschlüssel einer Einrichtung [4]. Im Modell des „functioning“ der Weltgesundheitsorganisation können solche Faktoren dem Bereich der Kontextfaktoren zugeordnet werden, die, wie diese wenigen Beispiele zeigen, nicht nur die Körperfaktoren, Aktivitäten und Teilhabe beeinflussen, sondern auch die durchgeführten Therapie- und Rehabilitationsmaßnahmen. Beispiele hierfür sind

  • Therapien werden nicht verordnet bzw. durchgeführt,

    • weil keine entsprechende Infrastruktur zur Verfügung steht, wie z.B. Nichtvorhandensein entsprechend weitergebildeter Therapeutinnen und Therapeuten (z.B. Handtherapeuten) oder von Apparaten (z.B. Geräte für die Applikation von CO 2 -Gasbädern). Das Fehlen von Frührehabilitationsstationen oder mobilen Frührehabilitationsteams verhindern die Durchführung der Frührehabilitation im Krankenhaus. Auch ein Mangel an Therapiekapazitäten kann zur Triage zwingen und dazu führen, dass ärztlich indizierte Behandlungen nicht erfolgen.

    • weil Therapien nicht oder nur unzureichend refinanziert werden, wie z.B. bei Anrechnung von Verordnungen auf das ärztliche Budget oder die zu geringe Refinanzierung von speziellen Leistungen (z.B. keine Folgeverordnungen bei Ausschöpfung des Budgets in der ärztlichen Praxis).

  • Therapien werden (nur) durchgeführt, um Geräte und therapeutische Kapazitäten auszulasten, z.B.

    • müssen Geräte wie z.B. Stoßwellentherapiegeräte oder isokinetische Trainingsgeräte zur Amortisation ausgelastet werden und werden somit häufiger verordnet

    • muss auch Personal mit einer Spezialisierung ausgelastet und Gruppen gefüllt werden, so dass z.B. fakultative Maßnahmen wie Massagen, Entspannungsgruppen oder andere Angebote auch bei „weicher Indikation“ durchgeführt werden.

Aktuelle Beispiele über die Bedeutung der Verfügbarkeit von Medizinprodukten sind z.B. die in Deutschland verzögerte Einführung des Mund-Nasenschutzes in der frühen Phase der COVID-19-Pandemie oder die geringe Anzahl von Impfungen zu Beginn des Jahres 2020. Auch der Einfluss von Information und Desinformation zum Nutzen kann als Anzeichen des Einflusses von externen Faktoren gewertet werden.

Um solche Faktoren der Struktur von Therapie- und Rehabilitationseinrichtungen systematisch zu erfassen, wurde von einer Arbeitsgruppe der International Society of Physical and Rehabilitation Medicine (ISPRM) eine Klassifikation vorgeschlagen („International Classification of Service Organization in Rehabilitation“; ICSO-R 2.0) [5], die eine standardisierte Analyse der Versorgungsstrukturen ermöglicht und auch geeignet ist, für die Therapie und Rehabilitation relevante Kontextfaktoren zu erfassen [6].

Gutenbrunner & Nugraha [7] haben in einer aktuellen Publikation auf die Relevanz von solchen Kontextfaktoren auf die klinische Entscheidung in der Physikalischen und Rehabilitativen Medizin hingewiesen und als „Vierten Faktor“ in das Sackett’sche Modell der ärztlichen Entscheidungsfindung integriert: Diese Faktoren des Gesundheitssystems und der Organisation der Therapie bzw. Rehabilitation ([Abb. 1]) umfassen u.a. die Verfügbarkeit von Spezialisten einer bestimmten Berufsgruppe, das Vorhandensein von Geräten und Apparaturen, die Refinanzierung von diagnostischen und therapeutischen Leistungen und die Möglichkeit der Überweisung an andere Ärzte/innen und Therapeuten/innen. Auch die Verfügbarkeit von Informationen und deren Aufarbeitung (z.B. Produktwerbung) kann die Auswahl von Therapien mit beeinflussen. Last but not least sind kulturelle Einflüsse und Überzeugungen als äußere Einflussfaktoren in Betracht zu ziehen.

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Abb. 1 4-Faktorenmodell der ärztlichen Entscheidungsfindung (nach [7]).

Was kann dies nun für die alltäglich klinische Tätigkeit in der Physikalischen und Rehabilitativen Medizin (PRM) bedeuten? Zunächst einmal ist aus Sicht der Autoren ein bewusster und transparenter Umgang mit den möglicherweise bestehenden Limitierungen in der Verfügbarkeit von Therapien, eine fehlende oder unzureichende Finanzierung der Maßnahmen oder Aspekte der ökonomischen Auslastung vorhandener Geräte. Ärztinnen und Ärzte haben aber auch eine Verantwortung die Verfügbarkeit notwendiger Therapien herzustellen, was einerseits auf Ebene der Institution zu lösen wäre aber auch darüber hinaus in die Gesundheits- und Berufspolitik hineinreicht.

Genauso wie der Bereich der ärztlichen Kenntnisse und Erfahrungen durch Aus-, Fort- und Weiterbildung sowie durch „Continuous Professional Development (CPD)“ und Supervision, der Bereich der Wirksamkeitsbeweise durch Forschung und deren systematische Übertragung in die Praxis und die patientenseitigen Ziele und Erwartungen durch Information und partizipative Entscheidungsmechanismen positiv beeinflusst werden können und müssen, sollten wir uns fragen, was wir für die Optimierung auf der Ebene der Systemfaktoren tun sollten oder sogar müssen. Aus Sicht der Autoren gehört dies zum Verantwortungsbereich von Ärztinnen und Ärzten, wobei sie in vielen Fällen nicht individuell, sondern nur im Rahmen entsprechender Organisationen verwirklicht werden kann.

Hannover, im Juli 2021
Prof. Dr. med. Christoph Gutenbrunner, Klinik für Rehabilitationsmedizin, Medizinische Hochschule Hannover
Dr. phil. Christoph Egen, Klinik für Rehabilitationsmedizin, Medizinische Hochschule Hannover
Dr. rer. biol. hum. Boya Nugraha, Klinik für Rehabilitationsmedizin, Medizinische Hochschule Hannover



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
16. September 2021

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  • Literatur

  • 1 Sackett DL, Rosenberg WM, Gray JA, Haynes RB, Richardson WS. Evidence based medicine: what it is and what it isn't. BMJ 1996; 312: 71-72
  • 2 Kon AA, Davidson JE, Morrison W, Danis M, White DB. American College of Critical Care M, et al. Shared Decision Making in ICUs: An American College of Critical Care Medicine and American Thoracic Society Policy Statement. Critical care medicine 2016; 44: 188-201
  • 3 Kitson A, Harvey G, McCormack B. Enabling the implementation of evidence based practice: a conceptual framework. Quality in health care: QHC 1998; 7: 149-58
  • 4 Lomas J. Medicine in context: a neglected perspective in medical education. Academic medicine: journal of the Association of American Medical Colleges 1994; 69: S95-101
  • 5 Gutenbrunner C, Nugraha B, Gimigliano F, Meyer T, Kiekens C. International Classification of Ser-vice Organization in Rehabilitation: An updated set of categories (ICSO-R 2.0). J Rehabil Med 2020; 52: DOI 10.2340/16501977-2627
  • 6 Andelic N, Lu J, Gutenbrunner C, Nugraha B, Gormley M, Søberg HL, Sveen U, Anke A, Kirkevold M, Røe C. Description of health-related rehabilitation service provision and delivery in randomized controlled trials: A topic review. J Rehabil Med 2020; 52: PMID: 32830278
  • 7 Gutenbrunner C, Nugraha B. Decision Making in Evidence-based Practice in Rehabilitation Medicine: Proposing a Fourth Factor. Am J Phys Med Rehabil 2020; 99: 436-440