Kinder- und Jugendmedizin 2021; 21(06): 449
DOI: 10.1055/a-1542-3605
Bundesverband Bunter Kreis e. V.

Interkulturelle Kommunikation: Ein Mensch ist ein Mensch

Isolde Stanczak

Diversität bleibt auch in Krisenzeiten eine Herausforderung. Das erleben Berufstätige im Gesundheitswesen alltäglich und entsprechend bauen viele seit Jahren ihre interkulturellen Kompetenzen aus. Sie können kulturell Fremdes und Neues sicher identifizieren, jedoch: Dieses Wissen verfestigt sich gerne als Schablonendenken – sog. Stereotypisierung – und das birgt auch für Experten kultureller Vielfalt Stolpersteine und verursacht Qualitätsprobleme.

Eine Erstgravida (30) beklagt nach einer Frühgeburt 26 + 6 SSW, dass sie nicht über postpartale Verhütung aufklärt wurde. Sie erfuhr zufällig von einer Mitpatientin, welche Rolle Antikonzeption für den Erfolg einer weiteren Schwangerschaft hat. Eine Teamreflexion brachte hervor, dass bei der afrikanischstämmigen Frau islamischen Glaubens auf diese Aufklärung verzichtet wurde: Man wisse ja, dass sie nicht verhüten darf. Es geht also nicht nur um das Wissen zu verschiedenen Kulturen, sondern um adäquate reflexive Handlungsweisen. Eine Behandlung im Sinne der Partizipation und Chancengleichheit erfordert ein hohes Niveau an reflexiver Kommunikationsfähigkeit, weil die Kommunikationspartner nicht nur kulturelle Vielfalt erleben, sondern sie in den interkulturellen Situationen zugleich erschaffen. Besonders schwierig ist die Interpretation der beobachteten und vermuteten kulturellen Unterschiede, denn wir können alles immer nur so sehen, wie wir es (er-)kennen. Die eigenen Erfahrungen und das eigene Wissen werden vorschnell als Schablone über die fremde Person gelegt und indizierte Maßnahmen (hic: die Beratung) entfallen. Dürfen denn katholische Christinnen nicht verhüten?

Die Herausforderung liegt oft in der Unterscheidung zwischen kulturspezifisch „traditionellen“ und menschlich-individuellen Verhaltensweisen. Dies beeinflusst die Versorgungsqualität, z. B. die Diagnostik von Befindlichkeitsstörungen im Wochenbett. Dabei geht es nicht nur um kulturelle Vorannahmen. Eltern sind zuallererst Menschen – und die sind: verschieden. Bei der Selbstreflexion kann Hofstedes Pyramide zur mentalen Programmierung helfen ([ Abb ]., Kasten). Es hilft in interkulturellen Situationen, zunächst Menschen einfach „nur“ als Menschen zu sehen. Eltern, egal woher sie kommen oder wie sie aussehen, haben unterschiedlichste kognitive und sprachliche Ausdrucks- und Verstehensniveaus sowie diverse Vorerfahrungen mit Erkrankungen und dem Gesundheitssystem. Sie haben Dilemmata, einen Vorrat an eigenen und fremden Deutungen, Anliegen, Konfliktstrategien und Emotionen.

MENTALE PROGRAMMIERUNG

Die 3 Ebenen der Pyramide helfen, die im Laufe eines menschlichen Lebens entstehenden spezifischen Denkmuster zu identifizieren und können als Anregung dienen, seine Denkschablonen über Menschen zu hinterfragen. Hierbei ist zu beachten, dass die Kulturen durch die gesellschaftlichen Transformationsprozesse zunehmend verschmelzen („hybride“ werden). Daher ist bei den Reflexionen der wachsende Anteil der Individualität der menschlichen Persönlichkeit (oberste Ebene) zu bedenken.

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Abb. 1 Die 3 Ebenen der Einzigartigkeit in der menschlichen Programmierung (nach Daten aus [1])

Nicht alle Probleme liegen in der Kultur. Situationen im Gesundheitswesen sind für die meisten Familien fremdes Terrain. Ihr schulisches, berufliches und alltagsrelevantes Wissen trägt meistens nicht. Unsicherheit und Angst verstärken die Orientierungslosigkeit. Sie wünschen sich offene, Fragen klärende und brückenbauende Fachkräfte. Das erworbene Wissen über die fremden Kulturen ist wichtig, jedoch nicht ausreichend. Es ist wichtig, stets die eigenen Vorannahmen vor dem Hintergrund menschlicher Individualität zu reflektieren. Dabei ist es nicht einfach, Widersprüche, Unsicherheiten und auch Enttäuschungen auszuhalten. Sie zu ignorieren oder zu verdrängen, ist aber gefährlich: vorschnell verurteilendes oder vermeidendes Verhalten führt zu Qualitätseinbußen, unprofessionellem Verhalten und Leid für die Betroffenen.

Der Artikel in Langform mit ausführlichem Literaturverzeichnis kann bei der Autorin erfragt werden.

Isolde Stanczak, Augsburg



Publication History

Article published online:
15 December 2021

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  • Literatur

  • 1 Hofstede G.. Lokales Denken, globales Handeln: Interkulturelle Zusammenarbeit und globales Management. München: Beck; 2001