Zentralbl Chir 2021; 146(06): 560-561
DOI: 10.1055/a-1657-5413
Editorial

Editorial

Michael Ghadimi

die COVID-19-Pandemie war, ist und wird noch für die nächste Zukunft eine der größten Herausforderungen für die Gesundheits-, Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme weltweit sein. Sie ist von historischem Ausmaß und wir können die langfristigen Konsequenzen derzeit nur schwer einschätzen. Die Implikationen für das persönliche Leid von unzähligen Menschen sind gewaltig und stellen die Staatensysteme global vor Herausforderungen, für die es keine Blaupause gibt.

Von Regierungen weltweit wurden Entscheidungen und Herangehensweisen im Umgang mit der Pandemie gezeigt, die nicht unterschiedlicher hätten sein können.

Deutschland hat einen Weg der Mitte eingeschlagen, der zwischen den Extremen wie zum Beispiel den langandauernden Lockdowns in Australien und Neuseeland mit geringen Impffrequenzen, den drastischen Isolationsmaßnahmen in China und den Laissez-faire-Konzepten Brasiliens oder zum Teil auch einiger europäischer Länder gelegen hat. Aus meiner Sicht war der deutsche Weg in der 1.-3. Pandemiewelle klug gewählt und vermittelte den Eindruck, dass die Bundesregierung sich die Meinungen und Empfehlungen von einem Expertenrat genau angehört und basierend darauf situativ reagiert hat. Es bleibt aber die Kritik an den viel zu geringen Impfraten in Deutschland. Hier hätte die Politik mit sehr viel mehr Nachdruck und Engagement agieren müssen. Der Deutsche Ethikrat hatte eine Impfpflicht empfohlen und bei der jetzt beginnenden und außer Kontrolle geratenen 4. Welle ist das Schlimmste zu befürchten.

Das deutsche Gesundheitswesen war mehrfach am Limit und zum Teil auch darüber hinaus, aber es sind uns zum Glück Bilder erspart geblieben, welche wir aus sehr vielen Ländern, darunter auch einer Reihe europäischer Nachbarn, sehen mussten. Bilder, die nachhaltig in unserem Gedächtnis bleiben werden. Man kann nur hoffen, dass wir in der jetzigen Welle nicht die gleiche Situation ertragen müssen – mit allen Konsequenzen inklusive einer Triagierung.

Nichtdestotrotz hat die Pandemie auch und gerade in Deutschland ganz besondere Schwächen in der Struktur unseres Landes gezeigt, die zum Teil groteske Züge hatten und leider noch immer haben. Ein Beispiel zeigt sich in der absolut unterentwickelten Digitalisierung und zentralen Datenerfassung, die die Funktionsfähigkeit eines Staates wie Deutschland mehrfach kritisch erscheinen ließ. Auch zeigte sich ebenso die Schwäche im Gesundheitswesen und hier ganz besonders in dem systemimmanenten Pflegemangel, der sich durch die COVID-19-Pandemie noch deutlich verschlechtert hat und weiter verschlechtern wird. Hier stehen wir vor ganz substanziellen Entscheidungen, welche von der neuen Bundesregierung getroffen müssen.

Die Herausgeber des Zentralblattes haben sich entschieden, nach der dritten Welle der Pandemie ein Schwerpunktheft zum Thema COVID herauszugeben, da mit jedem Monat mehr und verlässlichere Daten zu den Auswirkungen und Konsequenzen der Pandemie auf unser Fach bekannt werden. Leider zeigt sich auch hier wieder, dass, aufgrund der mangelnden Digitalisierung sowie Fähigkeit und Bereitschaft von uns Chirurgen, überwiegend Daten aus wenigen einzelnen Einrichtungen existieren und keine landesweit flächendeckenden Daten für größere Patientenpopulationen. Eine Ausnahme stellt die Arbeit von Franziska Koch aus Schwerin dar (Koch et al., S. 570 ff.), welche die gepoolten Daten von 73 Akutkrankenhäusern der Helios-Gruppe auf 5 Indikatoroperationen präsentiert. Notfalloperationen wie Ileus, Perforationen und intestinale Ischämien zeigen unveränderte Frequenzen. Bei den Appendektomien und Cholezystektomien zeigte sich allerdings eine deutliche Reduktion, was interessante Schlussfolgerungen zulässt.

Eine Sorge von uns Chirurgen war es immer, in Zeiten der Pandemie chirurgische Eingriffe mit der gleichen Sicherheit und ohne eine Erhöhung der Morbidität und Mortalität anzubieten. Dieser Thematik hat sich dezidiert die Freiburger Gruppe aus der thoraxchirurgischen Klinik um Mohamed Hassan gewidmet. Hier wird demonstriert, dass bei onkologischen thorakalen Resektionen in Zeiten der Pandemie bei Einhaltung von Hygienemaßnahmen und Sicherheitskonzepten zumindest monozentrisch keine Erhöhung der Komplikationen oder Mortalitäten zu beobachten ist (Hassan et al., S. 579 ff.). Diesbezüglich zeigen alle Arbeiten in dieser Ausgabe zum Glück keine Abweichungen.

Mit der Frage der Relevanz von Verschiebungen elektiver allgemeinchirurgischer Eingriffe durch die COVID-Pandemie hat sich die Gruppe um Arnulf Willms in einer Analyse von 6 Krankenhäusern beschäftigt. Sie zeigen, dass die Gesamtkomplikationsrate durch die Verschiebungen gering und die Akzeptanz der Patienten hoch war. Bei den Hernienpatienten zeigte sich eine nachvollziehbare Zunahme von Beschwerden und konsekutiven Inkarzerationen (Willms et al., S. 562 ff.) Aufgrund der geringen Zahlen lassen sich hier aber keine sicheren, allgemeingültigen Aussagen für die Gesamtpopulation treffen. Das gleiche trifft auch für die Arbeit aus Tübingen von Linda Brake zu, welche die Problematik einer COVID-Infektion bei transplantierten Patienten monozentrisch evaluiert hat und zeigt, dass die Inzidenzen ähnlich sind wie bei nicht transplantierten Patienten. Im Falle einer Infektion können die Folgen dann allerdings dramatisch sein und führten bei dem beschriebenen Patienten zum Organverlust (Brake et al., S. 587 ff.). Auch hier hätte man gerne Daten aller transplantierten Patienten in Deutschland gesehen.

Die Vorteile von standardisierten Abläufen und Therapiestrategien zeigt die Arbeit von Yvonne Gosslau aus Augsburg, welche die Effektivität von aggressiver Antikoagulation bei Intensivpatienten zur Reduktion der COVID-assoziierten tiefen Beinvenenthrombosen zeigt (Goßlau et al., S. 605 ff.). Ebenfalls aus Augsburg kommt die Arbeit von Sebastian Reindl mit Ko-Autoren, die eine Fallserie von COVID-Patienten präsentieren, welche einen schweren Verlauf mit Ausbildung eines Pneumomediastinums aufwiesen (Reindl et al., S. 612 ff.).

Mögliche Implikationen für die zukünftige Lehre chirurgischer Inhalte mit den Erfahrungen durch die COVID-Pandemie beleuchtet Laura Hanke mit Ko-Autoren aus allen operativen Fächern aus Mainz. Sie schlussfolgern völlig zu Recht, dass Präsenzunterricht für die Vermittlung psychomotorischer Lernziele und die Schulung von Kommunikationsfähigkeiten unerlässlich ist. Allerdings sollten wir die Chancen und Möglichkeiten digitaler Lehre und Blended-Learning-Konzepte zukünftig mehr implementieren. Gerade für chirurgische Fächer ist in Zeiten ärztlicher Personalverknappung eine hohe Effektivität in der Präsenzlehre vonnöten (Hanke et al., S. 586 ff.).

Liebe Leserinnen und Leser des Zentralblattes für Chirurgie, ich hoffe sehr, dass Sie dieses Schwerpunktheft COVID während der vierten Welle dieser Pandemie mit Interesse aufnehmen, und verbleibe

mit besten Grüßen aus Göttingen

Ihr

Michael Ghadimi



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
06. Dezember 2021

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