MSK – Muskuloskelettale Physiotherapie 2021; 25(05): 215-216
DOI: 10.1055/a-1678-1053
Forum

Therapy Live 2021

Arne Vielitz

Auf Twitter wurde die Therapy Live Konferenz mit „The biggest MSK-Event on the planet“ angekündigt. Eine ziemlich starke Ansage. Da ich den Veranstalter ‚Physio Matters‘ aufgrund seiner sehr guten Podcasts kannte, machte ich mich schlau, was es mit dieser Konferenz auf sich hatte. Das Ziel der Konferenz war laut Veranstalter, die Standards der Versorgung von Patient(inn)- en mit muskuloskelettalen Beschwerdebildern zu verbessern. Dafür fuhr Physio Matters ganz schön was auf: 10 parallel stattfindende Vortragsstränge mit über 150 Vorträgen von führenden Expertinnen und Experten aus dem MSK-Bereich. Und das Ganze kostenlos! Wer nicht nur live dabei sein wollte, konnte für einen fairen Preis ein Ticket buchen, mit dem man sich die Aufzeichnungen der Sessions später auch noch anschauen konnte.

Die Themen waren sehr vielseitig und klangen spannend. So hatte ich die Qual der Wahl.

Ich entschied mich u. a. für den Vortrag ‚Scapula Dyskinesia Disconnect‘ von Adam Meakins aus Großbritannien. In seiner zwar gewohnt provokanten, aber erfrischenden Art machte er gleich zu Beginn klar, dass er das Konzept der Skapuladyskinesie sehr kritisch sieht. Er gab zu bedenken, dass das oft als „normal“ vermittelte Verhältnis der glenohumeralen zur skapulothorakalen Bewegung von 2:1 auf einer Studie basiert, die Anfang der 90er Jahre mit nur einer Person durchgeführt worden war. Viele Faktoren beeinflussen die Bewegung der Skapula und den skapulothorakalen Rhythmus. Als individuelle Einflussfaktoren nannte er z. B. das Alter, Vorerfahrungen, Schmerz und Angst. Die Belastung während der Bewegung, die Intensität, Komplexität und Dauer zählen zu den aufgabenspezifische Faktoren, ob die Bewegung beobachtet wird, ob die Person sie „richtig“ machen möchte und wie die Umgebungstemperatur ist, zu den externen Faktoren. Der Drang des Menschen, Muster erkennen zu wollen, bezeichnete Meakins als Problem bei der Beobachtung und Beurteilung der Skapula. Dadurch sehen wir in erster Linie das, von dem wir denken, dass es da ist (was man aus unzähligen optischen Täuschungen kennt). Seine Empfehlung im Vortrag war, dass wir uns nicht auf subtile Änderungen stürzen, sondern nur Veränderungen, die sehr deutlich sind und uns sozusagen „anspringen“. als relevant betrachten sollten.

Den Vortrag zum Thema Beckengürtelschmerz startete Grainne Donnelly aus Nordirland mit dem Statement, dass es mehr zu beachten gibt als nur den Form- und Kraftschluss im Beckenring und dass es von Bedeutung ist, was und wie wir etwas äußern: „Words matter.“. Wir sollten uns daher gegenüber den Patientinnen nicht nur auf bio-mechanische Erklärungen stützen. Sie empfahl, Schmerzen nicht ausschließlich mit irgendwelchen Auffälligkeiten zu erklären, da diese Erklärungen eher zu Sorgen führen als zu Unterstützung. Wenn Physios einer Patientin z. B. erklären, dass ihr Becken instabil ist oder dass etwas „nicht mehr richtig sitzt“, führt das sehr wahrscheinlich zu einer Schmerzverstärkung. Donnelly betonte, dass wir nicht etwas in die richtige Position schieben oder irgendetwas „auflösen“. Es geht ihrer Ansicht nach in der Therapie nicht um strukturelle Änderungen, sondern um eine Schmerz- bzw. Symptommodifikation. Hands-on-Techniken können hierfür eine gute Ergänzung in der Therapie sein, genauso wie ein Gurt. Beides sollte aber weder die erste noch die einzige Therapie sein. Angepasste Übungen, Beratung bzgl. der Alltagsbelastungen und des Arbeitsplatzes sind sehr wichtige Punkte in der Therapie. Physios sollten auch den Schlaf und die Ernährung als mögliche Einflussfaktoren für die Schmerzen thematisieren. Donnelly ist der Meinung, dass Therapeut(inn)en zwar oft proklamieren, dass sie einen biopsychosozialen Ansatz verfolgen, diesen aber nicht unbedingt auch umsetzen. Um Zusammenhänge wirklich zu erkennen und zu überprüfen, reicht es nicht, nur ein paar Fragen zu stellen.

Schön an Kongressen ist, dass es sehr einfach ist, sich auch Vorträge zu Themen anzuhören, mit denen ich mich sonst nicht so häufig beschäftige, und so meinen Horizont ohne großen Aufwand erweitern kann, z. B. zum Thema Knochendichte/Osteoporose. Los ging es im Vortrag von Janet Thomas aus Schottland mit dem Untertitel “ What could and should we do for it.“ mit der Erinnerung, dass unsere Knochen lebendes Material sind und sich ca. alle 10 Jahre erneuern. Der Höhepunkt der Knochendichte wird, je nach Geschlecht, etwa um das 18.–23. Lebensjahr erreicht. Es gibt ein paar Faktoren, die Patient(inn)- en nicht verändern können: das Alter, das Geschlecht, das sie bei der Geburt hatten, und Frakturen in der Vorgeschichte. Was sie aber verändern können, ist, sich mehr zu bewegen. Dabei muss das „Mehr an Bewegung“ gar nicht viel sein. Eine Stunde weniger passives Verhalten ist so wirkungsvoll wie 18 Minuten moderate Bewegung und 1–2 Minuten pro Tag an hoher Belastung, z. B. Joggen, sind assoziiert mit einer besseren Knochengesundheit. Thomas empfiehlt, dass vor allem die Bereiche, in denen die meisten Frakturen auftreten, belastet werden sollten: Handgelenke, Hüften und Wirbelsäule. Hier sollten 50 Stoßbelastungen (Impacts) pro Übungseinheit an den meisten Tagen der Woche erfolgen. Weitere wichtige Faktoren bzgl. der Knochendichte sind der Alkoholkonsum, der auf < 2 Standardeinheiten pro Tag reduziert werden sollte, und eine ausreichende Kalziumzufuhr durch eine ausgewogene Ernährung.

„Talking To Patients About Sciatica” war ein weiterer interessanter und praxisnaher Vortrag von Tom Jesson aus Texas. Jesson ist der Meinung, dass Therapeut(inn)- en die Tendenz haben, den Patient(inn)en alles erklären zu wollen und diese Erklärungen zu kompliziert und komplex gestalten. Seiner Meinung nach liegt das daran, dass Therapeut(inn)en sich aufgrund ihres großen Wissens nicht mehr gut in die Rolle der „Unwissenden“ versetzen können. Jesson nennt dieses Phänomen den „Fluch des Wissens“. Wir sollten daher manchmal die Genauigkeit der Erklärung der Verständlichkeit opfern und die Patient(inn)en fragen, ob wir die Informationen verständlich rübergebracht haben.

Mein Fazit ist, dass es bei Therapy Live tollen Input zu den verschiedensten Themen gab. Ein passendes Statement gab einer der Teilnehmer bei der Diskussions-Session „Becoming The Best MSK Clinician“:

„Wenn wir uns Wissen aneignen, sollte es Hauptmahlzeit und Snacks geben. Wir können uns nicht nur von Twitter und Facebook ‚ernähren‘. Es sollten auch Studien, Artikel, Bücher, Fortbildungen und Kongresse auf dem Tisch sein.“ In diesem Sinne: bis zum nächsten Kongress!

Arne Vielitz



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Article published online:
14 December 2021

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