Nervenheilkunde 2022; 41(03): 124-134
DOI: 10.1055/a-1690-0322
Editorial

Corona-Leugner und Impfgegner

Angst und Frustration, Filterblasen und Verschwörungen, überwertige Ideen, Wahn?
Manfred Spitzer
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Seit mehr als 2 Jahren verschlägt eine globale SARS-CoV-2-Pandemie den Menschen den Atem – mit bislang weltweit mehr als einer Drittelmilliarde Infektionen, mehr als 5,6 Millionen an und mit COVID-19 Verstorbenen, und derzeit täglich auf neue Rekordhöhen ansteigenden Infektionszahlen (Stand: 26.1.22). Glücklicherweise gibt es seit mehr als einem Jahr[ 1 ] eine neue Klasse sehr wirksamer Impfstoffe und in einem beispiellosen Tempo erfolgten zwischenzeitlich etwa 10 Milliarden Impfungen weltweit.[ 2 ] An den Grundlagen zu diesen Impfstoffen wurde mehr als 20 Jahre lang geforscht. Wie es sich darstellt, ist ihr Wirkungsmechanismus sicherer als die früheren Generationen von Impfstoffen, ihre Wirkung effizienter und die Nebenwirkungen geringer. Langzeitfolgen der Impfung sind aufgrund des neuen Wirkprinzips, dass man zunächst für Krebstherapien erforscht hat, nicht zu erwarten, denn die Wirkung erfolgt über einen Botenstoff – messenger-RNA, der überhaupt nur deswegen Botenstoff ist, weil er schnell abgebaut wird (und eben gerade nicht lange im Körper verbleibt). Die Langzeitfolgen der Krankheit COVID-19 dagegen, die auch bei jungen Menschen und nach zunächst leicht verlaufender Infektion auftreten können, sind mitunter schwerwiegend. Man spricht mittlerweile von „Long-Covid“, was über Monate andauernde Abgeschlagenheit, verminderte Aufmerksamkeit, reduzierte Fähigkeit zum Denken und vor allem allgemeine Leistungsminderung (Arbeitsunfähigkeit) und Leid bedeutet.

Angesichts dieser Situation erscheint zunächst völlig unverständlich, warum in Deutschland und Europa noch immer viele Menschen behaupten, die Infektion mit dem Corona-Virus sei ungefährlich oder sogar, es gäbe sie gar nicht, und als Konsequenz die Impfung verweigern. Sie gehen auf die Straße, um zu demonstrieren, Randalierer mischen sich oft darunter, und im Fernsehen sind Szenen zu sehen, die aussehen wie Bürgerkrieg. Würde es sich hier um einige wenige handeln, gäbe es keinen Anlass für eine weitere Diskussion. Es sind aber seit Monaten in den verschiedensten Städten Tausende Menschen. Am 22.1.22 demonstrierten beispielsweise in Brüssel 70 000 gegen die Maßnahmen der Regierungen Europas zur Eindämmung der seit Wochen in nicht dagewesenem Ausmaß ansteigenden Infektionen mit SARS-CoV-2. Der soziale Frieden und vor allem der soziale Zusammenhalt in Gesellschaften im Herzen Europas scheint gefährdet. Dabei ist sich die Wissenschaft darüber einig, dass es erstens SARS-CoV-2 tatsächlich gibt und dass zweitens Impfen ganz allgemein zu den Erfolgsgeschichten der Medizin gehört: Schwere Krankheiten wie Kinderlähmung und Pocken sind verschwunden und viele andere Krankheiten haben ihren Schrecken verloren. Warum also kommt es dann zu diesen Ausschreitungen, die von Hass gegen die Obrigkeit („das System“) und Misstrauen gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen einerseits und Ärzten andererseits getragen werden, obwohl Wissenschaft und Medizin ansonsten die höchsten Vertrauenswerte haben. Wer ein Auto oder Flugzeug besteigt, über eine Brücke läuft oder sich operieren lässt, tut dies nur aufgrund dieses Grundvertrauens.

Ganz offensichtlich läuft etwas aus dem Ruder! Warum? Warum nicht schon bei früheren Krisen und anderen Impfungen? Warum jetzt und warum gerade hier in Europa? Wer sind diese Leute?



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
03. März 2022

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