PiD - Psychotherapie im Dialog 2022; 23(04): 1
DOI: 10.1055/a-1711-8392
Editorial

Heimat ist da, wo ich verstehe und wo ich verstanden werde.

Karl Jaspers
Barbara Stein

Liebe Leserin, lieber Leser,

Weihnachten steht vor der Tür – und dann ein Heft zum Thema Einsamkeit? Kein anderes Fest im Jahreszyklus ist so eng verknüpft mit unseren inneren Bildern von einem friedlichen Fest im Kreise unserer Familie und engen Freunde, mit unseren Sehnsüchten nach Vertrautheit und Geborgenheit. Natürlich wissen wir um die romantisierende, häufig wenig realitätsnahe Dimension dieser Wünsche. Und doch prägen sie unsere Erwartungen, aber auch Enttäuschungen, wenn es denn ganz anders kommt. Da passt das Thema Einsamkeit ganz gut. Weil eben nicht alles Gold ist an Weihnachten.

Alleinsein wird durch das Gefühl der Ausgrenzung zur Einsamkeit: Allein einen Sonnenuntergang, ein Konzert oder ein Vier-Gänge-Menü zu genießen, kann erfüllend und bereichernd sein. Schmerzlich wird es, wenn man sich ausgegrenzt fühlt. Wenn man gerne bei der Party eingeladen wäre, aber nicht ist. Wenn sich Wünsche und Realität nicht decken. Einsam kann man sich auch dann fühlen, wenn man nur die Fantasie hat, alle anderen hätten es gut miteinander. Das kennen wir (wahrscheinlich nicht nur) von unseren Patient*innen ganz gut.

Ich habe mich oft gefragt, wie Extremsportler das Gefühl von Alleinsein und wahrscheinlich auch Einsamkeit ertragen, wenn sie, nur auf sich gestellt, mit einem Segelboot den Pazifik überqueren oder wochenlang in der Antarktis unterwegs sind. Wie ertragen sie das Alleinsein, insbesondere in einer gefährlichen Umwelt? Fühlen sie sich einsam? Vermutlich helfen ihnen ausgeprägte innere Repräsentanzen von guten und hilfreichen Objekten. Und vielleicht auch der Gedanke, dass ein Unterstützungsteam sie aus der Ferne begleitet.

Jaspers Zitat kenne ich aus der Zeit meines Poesiealbums. Es gefällt mir, da es eine aktive und eine passive Dimension enthält, die in wechselseitigem Verhältnis stehen. Der Begriff Heimat ist eine Chiffre für das Gefühl von Verbundenheit, Vertrautheit und Rückhalt. Indem ich verstehe, werde ich verstanden.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen Heimat!

Barbara Stein



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Article published online:
17 November 2022

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