Klin Monbl Augenheilkd 2022; 239(02): 212-216
DOI: 10.1055/a-1725-2976
Statement

Stellungnahme der Rechtskommission des BVA und der DOG zur augenärztlichen Beurteilung im Schwerbehindertenrecht und bei Blindheit[*]

Stand Juni 2021 Berufsverband der Augenärzte Deutschlands e.V. (BVA), Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft (DOG)

Hintergrund

Der Augenarzt besitzt aufgrund seiner Weiter- und Fortbildung zumindest Grundkenntnisse, wenn es um Anforderungen aus dem Schwerbehindertenrecht geht. Blindheit und hochgradige Sehbehinderung beschreiben den vollständigen Funktionsverlust bzw. die auf eine Restfunktion herabgesetzte Wahrnehmung von Licht sowie von Form, Größe, Gestalt und Farbe visueller Reize (ICF – International Classification of Functioning, Disability and Health, GBE Bund [4]). Mit dieser erheblichsten Form der Funktionsstörung des Sehvermögens sind Beeinträchtigungen der Aktivität und Teilhabe in allen Lebensbereichen verbunden. Nach dem aktuellen Stand der Versorgungsmedizin auch in der Augenheilkunde ist die vergleichbare schlüssig nachvollziehbare Bewertung der verschiedensten Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ein wesentliches gesamtgesellschaftliches Ziel. Das Teilhabekonzept der Rehabilitation sieht neben rein medizinischen Faktoren deshalb den Einbezug von Kontextfaktoren vor und schafft erst damit ein ganzheitliches Verständnis von Gesundheit. Ab welchem Ausmaß des Funktionsverlustes Blindheit oder hochgradige Sehbehinderung vorliegt, ist über Teilfunktionen des Sehens (Sehschärfe, Gesichtsfeld) staatlich definiert (VersmedV – Versorgungsmedizin-Verordnung) oder in Landesgesetzen festgelegt. Die medizinischen Ursachen von Blindheit sind vielfältig und häufig okulär, können aber auch nicht okulär zerebral bedingt sein (Auge, Sehbahn, Sehrinde). Aufgabe des Augenarztes ist es daher, zuallererst objektive medizinische Befunde an den Augen als medizinische Befundtatsachen zu erfassen. Nur wenn objektive klinische Befunde als medizinischer Beweis für das Vorliegen von Blindheit geeignet sind, kann der Augenarzt diese gegenüber einem Gutachtenauftraggeber (überhaupt) bescheinigen. Außerdem ist es empfehlenswert, gegenüber Patienten und Angehörigen zum Ausdruck zu bringen, dass die ärztliche Bestätigung des Vorliegens von Blindheit nicht per se Leistungen nach dem Sozialrecht begründet. In der Versorgungsmedizin sind gerade bei Mehrfacherkrankungen vorrangig die individuellen (Gesamt-)Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe zu berücksichtigen. Neben den juristischen Vorgaben zur rechtlichen Definition von Blindheit aus der VersmedV oder den jeweiligen Landesgesetzen ist zu beachten, dass weitere Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Die individuellen Gesundheitsstörungen müssen geeignet sein, blindheitsbedingte Mehraufwendungen zu bedingen (Ausschluss eines Zweckverfehlungseinwandes).

* Diese Stellungnahme erscheint auch in der Zeitschrift Der Ophthalmologe, Springer Verlag, Heidelberg. Das Redaktionskomitee dieser Stellungnahme wird am Beitragsende gelistet.




Publication History

Article published online:
24 February 2022

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    • Verwendete Literatur

    • 1 Haase W. Amblyopien. Teil I: Diagnose. Ophthalmologe 2003; 100: 69-87
    • 2 Rohrschneider K. Der Augenarzt und der Nachweis gesetzlicher Blindheit. Augenarzt 2017; 51: 33-36
    • 3 Versorgungsmedizin-Verordnung. Im Internet (Stand: 09.03.2021): https://www.gesetzeiminternet.de/bundesrecht/versmedv/gesamt.pdf
    • 4 WHO. Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit ICF. 2005
    • 5 Rechtsprechung: 1. BSG, Urt. v. 11. Aug. 2015 – B 9 BL1/14 R Fundstelle: BSGE 119, 224 = SozR 4-5921 Art. 1 Nr. 3 2. BSG, Urt. v. 14. Juni 2018 – B 9 BL1/17 R Fundstelle: BSGE 126, 63 = SozR 4-5921 Art. 1 Nr. 4 3. BSG, Urt. v. 24. Okt. 2019 – B 9 SB 1/18 R Fundstelle: BSGE 129, 211 = SozR 4-3250 § 152 Nr. 2 4. BayLSG, Urt. v. 11. Febr. 2020 – L15 BL9/14.
    • 6 Rohrschneider K, Braun C. Blindheit nach dem Schwerbehindertenrecht und den Landesblindengeldgesetzen. Augenarzt 2021; 55: 33-37 97–101
    • Rechtsprechung

    • 7 BSG, Urt. v. 11.08.2015 – B 9 BL1/14 R Fundstelle: Bsge 119, 224 = Sozr 4 – 5921 Art. 1 Nr. 3.
    • 8 BSG, Urt. v. 14.06.2018 – B 9 BL1/17 R Fundstelle: Bsge 126, 63 = Sozr 4 – 5921 Art. 1 Nr. 4.
    • 9 BSG, Urt. v. 24.10.2019 – B 9 SB 1/18 R Fundstelle: Bsge 129, 211 = Sozr 4 – 3250 § 152 Nr. 2.
    • 10 Baylsg, Urt. v. 11.2.2020 – L15 BL9/14.