Subscribe to RSS
DOI: 10.1055/a-1742-2506
Reform des Betreuungsrechts – Was bedeutet sie für die Palliativversorgung?

Liebe Leserin, lieber Leser,
Hand aufs Herz: Haben Sie schon davon gehört, dass das Betreuungsrecht grundlegend reformiert worden ist? Wissen Sie, dass das neue Recht ab dem 1. Januar 2023 gilt? Und wissen Sie, was sich alles ändert – auch für Sie und in Ihrem beruflichen Umfeld?
Für die Palliativversorgung ist das Betreuungsrecht von besonderer Bedeutung: Vorsorgevollmacht und rechtliche Betreuung, Vorausverfügungen für die ärztliche Behandlung – das alles und noch viel mehr steht im Betreuungsrecht. Eingeführt worden ist es vor 30 Jahren durch eine zu Recht so bezeichnete „Jahrhundertreform“. Seitdem werden Erwachsene, die aufgrund einer Krankheit oder Behinderung in ihrer Fähigkeit zur selbstbestimmten Entscheidung eingeschränkt sind, nicht mehr entmündigt und unter Vormundschaft oder Zwangspflegschaft gestellt, sondern von Vorsorgebevollmächtigten oder rechtlichen Betreuern unterstützt und vor Benachteiligung geschützt.
Nach 30 Jahren war es nun an der Zeit für eine grundlegende Reform. Die praktische Umsetzung des Betreuungsrechts ist vielfach unbefriedigend; Entmündigung und Bevormundung stecken auch heute noch in vielen Köpfen und leiten das Handeln, auch von professionell Sorgenden, auch im Betreuungs- und im Gesundheitswesen. Zudem stellt die UN-Behindertenrechtskonvention neue Anforderungen an den Umgang mit Menschen mit psychischen oder kognitiven Beeinträchtigungen. Hier will der Gesetzgeber mit einer großen Reform zum 1. Januar 2023 Abhilfe schaffen. Was bedeutet das nun für die Palliativversorgung?
Schon rein äußerlich bleibt kein Stein auf dem anderen: Wirklich alle Paragrafen des Betreuungsrechts im Bürgerlichen Gesetzbuch ändern sich, auch der Aufbau des Gesetzes ist neu, denn die Reform umfasst nicht nur die Vorsorgevollmacht und die rechtliche Betreuung, sondern auch die Vormundschaft für Minderjährige. Was aber ändert sich inhaltlich?
Festzuhalten ist zunächst, dass die Reform die Patientenseite betrifft. Immer dann, wenn ein Patient aufgrund einer Krankheit oder Behinderung in seiner Fähigkeit zur selbstbestimmten Entscheidung eingeschränkt ist, kommt das Betreuungsrecht ins Spiel. Vorsorgevollmacht und rechtliche Betreuung sollen diesen Menschen dabei unterstützen, seine Rechte wahrzunehmen, und ihn davor schützen, dass er sich selbst schädigt oder von anderen geschädigt wird, weil er sich wegen seiner Beeinträchtigungen nicht selbst schützen kann. Daher stehen Selbstbestimmung und Partizipation des Patienten ganz im Vordergrund, etwaige Einschränkungen dürfen allein seinem Schutz dienen und müssen auf das notwendige Mindestmaß beschränkt werden. Diese Grundsätze werden durch die Reform in mehrfacher Hinsicht verdeutlicht und geschärft und ausdrücklich auf alle Akteure erstreckt. Folgende Beispiele mögen das illustrieren:
Das Gesetz schreibt nun ausdrücklich vor (§ 1821 Abs. 1 BGB-neu), dass der Patientenvertreter den Patienten nur dann vertreten darf, wenn dies erforderlich ist. Mit anderen Worten: Solange der Patient zwar in seiner Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigt ist, aber noch selbst entscheiden kann, dabei allerdings Unterstützung benötigt, dürfen Behandler bzw. Behandlungsteam nicht einfach den Patientenvertreter um die Einwilligung bitten. Vielmehr müssen sie den Patienten bei seiner Entscheidungsfindung beraten und ihm helfen, selbst über die Einwilligung zu entscheiden. Der Patientenvertreter soll durchaus in die Entscheidungsfindung miteinbezogen werden; er darf aber ebenfalls nur unterstützend tätig werden.
Ersetzt wird der schillernde und zu vielen Missverständnissen führende Begriff des „Wohls“ (bisher § 1901 BGB). Nach dem neuen § 1821 BGB sind handlungsleitend in erster Linie die aktuellen Wünsche, in zweiter Linie die früher erklärten Wünsche des Patienten und subsidiär sein mutmaßlicher Wille. Das findet sich zwar schon heute in § 1901a BGB (künftig: § 1827 BGB) für die Behandlungsentscheidungen. Neu ist jedoch, dass es künftig ganz allgemein gilt und vor allem die gesetzliche Bestimmung, dass man von einem Wunsch des Patienten nur ausnahmsweise abweichen darf: Die Einwilligungsunfähigkeit des Patienten allein reicht dafür nicht aus; hinzukommen muss eine erhebliche Eigengefährdung, wenn man seinem Wunsch folgen würde. In einem solchen Fall ist dann nicht mehr das „Wohl“ des Patienten maßgeblich, sondern ausschließlich sein mutmaßlicher Wille.
Ein völlig neues Rechtsinstrument ist die Notvertretung durch Ehepartner. Künftig können sich Ehepartner in gesundheitlichen Notfällen gegenseitig vertreten (§ 1358 BGB-neu), wenn kein Vorsorgebevollmächtigter oder rechtlicher Betreuer vorhanden ist. Ist der Patient bewusstlos oder einwilligungsunfähig, kann dann der Ehepartner für den Patienten behandlungsbezogene Verträge schließen und in ärztliche Maßnahmen einwilligen. Auch kurzfristigen Fixierungen und ähnlichen freiheitsentziehenden Maßnahmen kann er mit gerichtlicher Genehmigung zustimmen. Diese Notvertretung gilt für maximal 6 Monate; danach muss das Betreuungsgericht ggf. einen rechtlichen Betreuer bestellen. Behandler müssen sich daher umstellen: Ein Ehepartner hat ein Recht darauf, in die Entscheidungsfindung einbezogen zu werden; er gibt nicht bloß Auskunft über den (mutmaßlichen) Willen des Patienten, sondern ist Patientenvertreter in gleicher Weise wie ein Vorsorgebevollmächtigter oder rechtlicher Betreuer. Für ihn gelten deshalb auch dieselben Regeln.
Bereits diese wenigen Beispiele zeigen, dass die Reform tatsächlich das gesamte Betreuungsrecht erfasst. Sie betrifft daher nicht nur die im Betreuungswesen Tätigen, sondern hat Bedeutung weit darüber hinaus. Für die Palliativversorgung, die sehr häufig mit vulnerablen Patienten zu tun hat, trifft das in besonderem Maße zu. Es ist höchste Zeit, sich den damit verbundenen Herausforderungen zu stellen!


Ihr Volker Lipp
Prof. Dr. Dr. h. c. Volker Lipp, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht, Medizinrecht und Rechtsvergleichung, Zentrum für Medizinrecht, Universität Göttingen
Publication History
Article published online:
11 November 2022
© 2022. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany