Nervenheilkunde 2022; 41(10): 644-647
DOI: 10.1055/a-1826-7588
Editorial

Durchfall? – Gesichtsmaske!

Über einen neuentdeckten Infektionsweg von Noro-, Rota- und Astroviren
Manfred Spitzer

Jedes Jahr infizieren Noro-, Rota- und Astroviren zusammen weltweit etwa eine Milliarde Menschen und führen zu erheblicher Morbidität und Mortalität. Die Inkubationszeit beträgt wenige Stunden bis etwa 2 Tage, und die Symptome sind Erbrechen, Durchfall, Übelkeit, Bauch- und Muskelschmerzen. Zwar gibt es gegen das Rotavirus einen Impfstoff (im Jahr 2006 eingeführt, mittlerweile in über 100 Ländern), der für einen Rückgang von Rotavirus-Infektionen weltweit gesorgt hat [4], [22]. Dennoch war dieses Virus im Jahr 2016 nach einer im Fachblatt Lancet erschienenen Studie zur globalen Belastung mit Durchfallerkrankungen in 195 Ländern [7] noch immer vor allen anderen Erregern weltweit die Ursache der meisten Todesfälle durch Durchfallerkrankungen (228 047) in jedem Alter und auch bei den unter 5-Jährigen (128 515).[ 1 ]

Hierzulande sind Noroviren mittlerweile die häufigsten Erreger viraler Gastroenteritiden. Die minimale Infektionsdosis wird mit nur 10 Viruspartikeln angegeben. In gemäßigten Klimaregionen wie der unsrigen gibt es in den Wintermonaten eine deutliche saisonale Häufung der Infektionen, weswegen man (wie bei der Grippe) von „Wellen“ der Erkrankung spricht.

Die Erforschung der Viren war lange ein Problem. Erst als man Organoide des Darms züchten konnte, wurde es möglich, Noroviren in diesen Mini-Därmen zu züchten [6], was deren Erforschung wesentlich beschleunigte.[ 2 ] Die 3 genannten Viren mutieren schnell, sodass eine Infektion nur für eine begrenzte Zeit für Immunität sorgt, wobei die Angaben von 6 Monaten bis 9 Jahren reichen. Die raschen genetischen Veränderungen sind auch der Grund dafür, dass es noch keinen Impfstoff gegen Noroviren und Astroviren gibt [10].

Obwohl alle 3 Viren im Speichel nachgewiesen werden können [16], galt die Meinung, dass sie sich im Darm vermehren und in den Speichel lediglich durch Erbrechen gelangen. Als Transmissionsmodus galt daher für diese Viren der fäkal-orale Übertragungsweg (Wasserhähne, Türklinken etc.). Weil die Viren auf Oberflächen tagelang überleben können, galten sie als recht tückisch, zumal es im Jahr 2012 eine große Infektionswelle in den neuen Bundesländern mit mehr als 11 000 Erkrankten gab, die auf mit Noroviren kontaminierte Tiefkühlerdbeeren aus China zurückgeführt werden konnte [3]. Im Sommer 2017 erkrankten bei einem Norovirus-Ausbruch in Kanada mehr als 700 Menschen, was auf kontaminierte gefrorene Himbeeren (ebenfalls aus China importiert) zurückgeführt werden konnte [20].

Tab. 1

Kurze Zusammenfassung einiger Charakteristika von Noro-, Rota- und Astroviren.

Noroviren

Rotaviren

Astroviren

Name

früher Norwalk-Virus, nach einem Ausbruch in Norwalk, Ohio; seit 2002 Norovirus

Aussehen (im Elektronenmikroskop wie ein Rad)

Aussehen (im Elektronenmikroskop wie ein Stern)

Entdeckung

1972

1973

1975

Durchmesser

35–39 nm

75 nm

28–35 nm

Hülle

keine Hülle

doppelte Hülle

einfache Hülle

Epidemiologie; Impfstoff

häufigster Erreger viraler Gastroenteritiden; bislang kein Impfstoff

früher mit über 500 000 Infektionen häufigster Erreger viraler Gastroenteritiden; seit 2006 liegt Impfstoff vor, Infektionen daher rückläufig; bei unter 5-Jährigen nach wie vor häufigster Erreger von Durchfallerkrankungen

vierthäufigster Erreger viraler Gastroenteritiden; bislang kein Impfstoff

Wer ist betroffen?

Weltweit 685 Millionen Noroviruserkrankungen, die 18 % der weltweiten akuten Gastroenteritisfälle ausmachen

Jugendliche und Erwachsene werden lebenslang erneut infiziert, erkranken aber nur leicht und fungieren daher als asymptomatische Ausscheider und Überträger. Im Alter nimmt der Anteil symptomatischer Erkrankungen wieder zu.

neben Durchfall und Erbrechen auch Fieber, meist Kinder betroffen

Erst kürzlich wurde aber an Mäusen [8] ein neuer Übertragungsweg gezeigt. Mäusewelpen, die oral mit Noro- und Rotaviren infiziert worden waren und eine Infektion von Darm und Speicheldrüsen aufwiesen, übertrugen die Viren während des Stillens auf das Muttertier. Das Muttertier wiederum gab sowohl das Virus als auch schützende Antikörper (IgA) an die Welpen zurück ([ Abb. 1 ]). Weitere Experimente zeigten, dass die Speicheldrüsen bei Mäusen als Reservoir für Viren dienen können, und dass die Replikation der Viren auch in kultivierten Maus-Speicheldrüsen-Zelllinien erfolgt. Daraufhin experimentierten die Wissenschaftler mit menschlichen Speicheldrüsen-Zell-Linien und fanden heraus, dass sich menschspezifische Noro- und Rotaviren in diesen Linien ebenso sehr gut vermehrten.

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Abb. 1 Schematische Darstellung der Übertragung von einem Mäusebaby (unten links) auf das stillende Muttertier und von diesem zurück auf das Mäusebaby (unten rechts), mitsamt schützenden Antikörpern (nach Daten aus [9]).

Abschließend kommentierten die Autoren ihre Ergebnisse wie folgt: „Wir haben gezeigt, dass die Speicheldrüsen ebenso wie der Darm ein wichtiger Replikationsort für diese Viren sind; der Speichel überträgt die Infektion auf andere, auch auf stillende Mütter. Darüber hinaus können Speicheldrüsen als Reservoir fungieren, sodass enterische Viren auch ohne Durchfall durch Speichel weiterverbreitet werden. Unsere Ergebnisse rücken die enterische Virusinfektion der Speicheldrüsen und des Speichels als potenziell bedeutenderen Übertragungsweg durch Sprechen, Husten, Niesen und Küssen in den Mittelpunkt, verglichen mit dem üblichen Übertragungsweg, der fäkalen Kontamination. Daher deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass zusätzlich zu den Maßnahmen zur Verhinderung der fäkalen Übertragung auch Hygienemaßnahmen erforderlich sein könnten, um die Übertragung von Darmviren in der Bevölkerung zu verhindern“ [8].

Im Lichte dieser neuen, im Fachblatt Nature Ende Juni 2022 online publizierten Daten wundert es nicht, dass die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie zu einem deutlichen Rückgang der Zahl der Norovirus-Infektionen geführt hatten. In einem Artikel mit dem bezeichnenden Titel „Where have the enteric viruses gone?“ haben Wissenschaftler an einem großen deutschen Labor (Bioscientia Laboratory, Ingelheim), das mehr als 50 Krankenhäuser und mehr als 5000 Arztpraxen in Hessen, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen versorgt, anhand ihrer eigenen Daten gezeigt, dass die Infektionen mit Noro- und Astroviren während des Corona-Lockdown hoch signifikant abgenommen und die Infektionen mit Rotaviren zumindest zahlenmäßig abgenommen haben [11]. Bei bakteriell verursachten Durchfallerkrankungen gab es hingegen eine (nicht signifikante) numerische Zunahme ([ Abb. 2 ]).

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Abb. 2 Prozentualer Anteil von positiv ausgefallenen Testergebnissen für 3 virale und 2 bakterielle Erreger, die Diarrhoe verursachen, jeweils vor (13 Quartale vom 1. Quartal 2017 bis zum 1. Quartal 2020) und während der Corona-Pandemie (4 Quartale vom 2. Quartal 2020 bis zum 1. Quartal 2021) (nach Daten aus dem Bioscientia Laboratory, Ingelheim [12]) (Auswahl und zusammenfassende Darstellung der Mittelwerte durch den Autor).

Mit diesen Daten ist dieses Labor keineswegs allein. In einem Heidelberger Labor (MZV Labor Dr. Limbach) wurden ebenfalls die eigenen Daten ausgewertet und ein nahezu vollkommendes Ausbleiben der Norovirus-Infektionen verzeichnet ([ Abb. 3 ]). Die Daten des Robert-Koch-Instituts zeigen dies für ganz Deutschland, und auch in Ulm wurden am Universitätsklinikum bis März 2020 43 Patienten mit Norovirus-Infektionen stationär betreut, für den Rest des Jahres dagegen kein einziger Patient mehr. Im Jahr 2021 dagegen gab es wieder mehr als 100 Fälle (von Baum, persönliche Mitteilung 2022).

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Abb. 3 Monatlicher Anteil (Mittelwerte und 95 % Konfidenzintervalle) der Norovirus-positiven Proben bei Krankenhauspatienten der Monate Januar bis Dezember aus den Jahren 2018, 2019 und 2020 (aus [5]; mit freundlicher Genehmigung der Autoren).

Im Gegensatz zu den viralen Durchfallerkrankungen nahmen die bakteriell verursachten Erkrankungen, beispielsweise durch Campylobacter oder Clostridium difficile, während der Corona-Pandemie eher zu [11]. Daten aus Großbritannien zu Infektionen mit Norovirus und Campylobacter zeigen das ([ Abb. 4 ]) [15]. Nun werden Campylobacter-Infektionen meist durch kontaminierte Lebensmittel übertragen, für Clostridien gilt dagegen meist der fäkal-orale Übertragungsweg (Wasserhähne, Türklinken etc.), der durch die Corona-Maßnahmen ganz offensichtlich nicht wesentlich geringer wurde.

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Abb. 4 Infektionen mit Norovirus (oben) und Campylobacter (unten) von Oktober 2018 bis Oktober 2020 in Großbritannien. In grün sind die Daten wiedergegeben, in violett Modellrechnungen, die für die Wochen 12 bis 43 des Jahres 2020 angeben, wie die Infektionen ohne Corona-Pandemie verlaufen wären (mit hell-violett dargestelltem Konfidenzintervall) (nach Daten aus [15]).

Schon bald nach der ersten Corona-Welle wurde bekannt, dass die Anzahl der Grippe-Fälle (Infektionen mit dem Influenza-Virus) in Deutschland um mehr als 99 % gesunken war: Gab es bei den Grippewellen der 4 Jahre vor der Corona-Pandemie jeweils etwa 200 000 Fälle pro Jahr (und etwa 1000 Todesfälle), so fiel in Deutschland die Grippe-Welle im Jahr 2020/2021 mit nur etwa 500 Fällen (und 15 Todesfällen) praktisch aus. Für das Jahr 2021/2022 war zwar ein starker Anstieg aufgrund der verloren gegangenen Immunität der Bevölkerung gegenüber Influenza-Viren vorhergesagt worden, der jedoch mit nur wenigen 1000 Fällen vergleichsweise ebenso recht gering ausfiel [18]. Am Universitätsklinikum in Ulm war die Datenlage besonders eindrücklich: Ab März 2020 und im ganzen Jahr 2021 gab es keinen einzigen stationären Patienten mit Influenza (von Baum, persönliche Mitteilung 2022).

Im europäischen Raum wurde nach Angaben der WHO in der Zeit von Woche 40 in 2020 bis Woche 8 im Jahr 2021 im Vergleich zu den entsprechenden Zeiträumen in den 6 Jahren davor sogar ein Rückgang der positiven Influenza-Tests um 99,8% verzeichnet – von 38% (14 966 positive Tests von 39 407 Tests) auf 0,1 % (33 positive Tests von 25 606 Tests) [1]. Auch in Australien war die Grippewelle im Jahr 2020 in den dortigen Wintermonaten März bis September mit etwa 7000 (anstatt etwa 150 000) Fällen erheblich niedriger, wie Sheena Sullivan und Mitarbeiter in einer Arbeit bemerken, deren Titel man schon fast errät [21]: „Where has all the influenza gone?”

Es kommt selten vor, dass ich morgens um 7 Uhr eine Arbeit in Nature lese und eine gute Stunde später den Inhalt nach der Frühbesprechung meinen Kollegen berichte. Im Fall der Ergebnisse von Ghosh und Mitarbeitern erschien mir dies jedoch sinnvoll, weil virale gastrointestinale Infektionen mit Durchfall gerade in Krankenhäusern – neben Altenpflegeheimen oder Kindergärten – besonders häufig sind und daher viel medizinische Ressourcen binden. Die neuen Daten zur Vermehrung des Virus in Speicheldrüsen sowie die epidemiologischen Daten zum Ausbleiben von Norovirus-Infektionen während der Corona-Pandemie bei gleichzeitiger Zunahme bakteriell vermittelter Durchfallerkrankungen legen nahe, dass unter den angeordneten Infektionsschutzmaßnahmen eben nicht nur das Händewaschen, sondern vor allem auch das Tragen von Gesichtsmasken dazu beitragen kann, die Prävalenz viral bedingter Durchfallerkrankungen zu senken. Umsichtige Kliniker handelten seit mindestens 10 Jahren entsprechend. Seit der in Nature erschienenen Arbeit weiß man nun, warum das auch systematisch sinnvoll ist und nicht nur eine bloße Vorsichtsmaßnahme darstellt. Wenn es jeder weiß und danach handelt, sollte uns viel Leid erspart bleiben.



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
14. Oktober 2022

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