Nervenheilkunde 2022; 41(10): 713
DOI: 10.1055/a-1826-7632
Buchbesprechungen

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Bernd Holdorff
1   Berlin
,
Stefan Evers
2   Coppenbrügge
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Cécile Vogt. Pionierin der Hirnforschung

Birgit Kofler-Bettschart: Cécile Vogt. Pionierin der Hirnforschung. Wien: Ueberreuter Verlag 2022, 238 Seiten, 22 Abbildungen, 25,00 Euro, ISBN 9783800077861

Die französische Hirnforscherin Cécile Vogt (1875–1962), meist im Schatten ihres Ehemanns Oskar Vogt (1870–1959) gesehen, verdient es, mehr als bisher ins rechte Licht gesetzt zu werden. Sie war am Ende des 19. Jahrhunderts in Paris als Medizinstudentin unter fast nur männlichen Kollegen schon eine Ausnahmeerscheinung. Die approbierte Ärztin am Pariser Hôpital Bicètre lernte Oskar kennen, als er an der Salpêtrière hospitierte. Beide gründeten 1898 in Berlin ein Hirnforschungsinstitut mit angeschlossener nervenärztlicher Poliklinik. Mit deutschen Ressentiments belastet und gezwungen, die deutsche Approbation nachzuholen, bis 1920 in unbezahlter Stellung, dirigierte sie den Haushalt mit Haushaltshilfen und versorgte außer einer unehelichen, in Paris zurückgelassenen Tochter, 2 weitere Töchter. Cécile wird anhand von nicht ausgewerteten Tagebucheintragungen und Briefen als eine warmherzige, humorvolle Frau beschrieben.

Ihr Ehemann Oskar Vogt hat sie stets in den gemeinsamen Publikationen an die erste Stelle gesetzt, hat ihr nach anfänglichen (um 1900) öffentlichen Zutrittsverweigerungen zu Konferenzen und Vorträgen in Berlin den Zugang verschafft und ihre besonderen Leistungen hervorgehoben, etwa die Erstbeschreibung des Krankheitsbildes der Athetose double mit ihrem morphologischen Korrelat des Status marmoratus als Beleg für die pathognonomische Bedeutung des Corpus striatum für Bewegungsstörungen (1911). Oskar war der Patriarch und „Macher“, dem es vor allem gelang, in Berlin-Buch ein international renommiertes, interdisziplinäres Hirnforschungsinstitut aufzubauen, gegen alle Widerstände seitens der Universität Berlin und konkurrierender Kollegen. Cécile stand Oskar bei allen Entscheidungen zur Seite, verwaltete einen Großteil der Korrespondenz, organisierte die Hirnsammlungen und vertrat nach außen das gemeinsame Forschungsprojekt einer Suche nach morphologischen Gesetzmäßigkeiten in der Hirn-Geist-Beziehung (Cécile 1933 in einem Vortrag: „Warum stellen wir die Hirnanatomie in den Mittelpunkt unserer Forschung?“). Ein solches naturalistisches Konzept aus dem 19. Jahrhundert wurde von den Vogts lebenslang verfolgt, von nachfolgenden Generationen inzwischen mit anderen Methoden der Visualisierung.

Die Vogts mussten sich dem NS-Regime beugen, ein neues Hirnforschungsinstitut in Neustadt/Schwarzwald gründen und die schwierige Nachkriegszeit bewältigen. Bei zahlreichen Ehrungen durch Universitäten, Fachgesellschaften und Nobel-Preis-Vorschlägen wurde Oskar öfter genannt, häufig aber beide zusammen, vereinzelt auch Cécile allein. Das Buch ist mehr als eine Biografie: Es beschreibt Hirnforschung, Zeitgeist, Politikgeschichte mit den Überlebenskämpfen um das Vogtsche Institut während und nach 2 Weltkriegen. Der österreichischen Autorin ist ein Buch in einer gründlich recherchierten und gut lesbaren Form gelungen, das seinesgleichen sucht und für eine breitere, nicht nur Fachleserschaft ausgelegt ist.

Bernd Holdorff, Berlin



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Article published online:
14 October 2022

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